Auswirkungen von Covid-19-Schließungen auf schulische Leistungen
Titel der Studie: Differential Effects of COVID-19 School Closures on Students’ Learning
Laufzeit: Mai 2022 - Mai 2023
Im Zuge der COVID-19-Pandemie sind Schulen in Deutschland und vielen anderen Staaten weltweit ab dem Frühjahr 2020 immer wieder geschlossen worden. Ziel war es, Infektionsketten zu unterbinden.
Für Kinder und Jugendliche und ihre Familien waren diese Schulschließungen häufig eine große Herausforderung. Es galt, auf Distanz selbstorganisiert zu lernen – und das häufig unter den erschwerten Bedingungen der Lockdowns.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler befürchten, dass diese Ausnahmesituation negative Auswirkungen auf die Basiskompetenzen der Schülerinnen und Schüler, wie Rechnen, Lesen und Schreiben, hat.
Tim Fütterer vom LEAD Graduate School & Research Network an der Universität Tübingen untersucht diese Zusammenhänge derzeit gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der Universität Oslo. Das Team analysiert hierfür die Daten von rund 420.000 norwegischen Schülerinnen und Schüler aus den Jahren 2016 bis 2022.
Hintergrund
Als sich im Frühjahr 2020 erstmals eine größere Anzahl von Menschen in Europa mit dem Coronavirus infizierte, reagierte die norwegische Regierung mit prophylaktischen Schulschließungen. Zwar waren die Infektionszahlen im Land zu diesem Zeitpunkt noch gering, doch die Regierung wollte verhindern, dass Schulen zukünftig zu Übertragungshotspots werden.
Für zehntausende Schülerinnen und Schüler bedeutete dies: Homeschooling – von heute auf morgen. Unterricht gab es nur noch auf Distanz (meist digital) und der Kontakt zu den Klassenkameraden reduzierte sich stark. Eine ungewohnte und herausfordernde Situation.
Den gesamten Frühling blieben die Schulen in Norwegen geschlossen, so lange, bis die Sommerferien begannen. Und auch anschließend gab es im Land immer wieder temporäre Schließungen an jenen Orten, die mit hohen Infektionszahlen zu kämpfen hatten.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Lockdowns und die damit einhergehenden Schulschließungen zu einem Leistungsabfall in den Basiskompetenzen bei Schülerinnen und Schülern beigetragen haben. Hierzu gehören etwa Grundfähigkeiten in Rechnen, Lesen und Schreiben.
Tim Fütterer und seine Kolleginnen und Kollegen möchten in ihrer großangelegten Studie analysieren, ob dies tatsächlich der Fall ist – und wenn ja, wie groß die negativen Effekte der Schulschließungen auf jene Kompetenzen wirklich sind.
„Wir gehen davon aus, dass jene Schülerinnen und Schüler, die von längeren Schulschließungen betroffen waren, einen stärkeren Abfall des Leistungsniveaus in den Basiskompetenzen aufweisen“, erklärt Fütterer.
„Außerdem erwarten wir, dass Schülerinnen und Schüler mit einem geringeren sozioökonomischen Hintergrund von einem externen Schock, wie den Lockdowns, stärker betroffen sind als jene, die aus bessergestellten Verhältnissen stammen.“
Sie vermuten zudem, dass leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler besonders stark unter dem Homeschooling gelitten haben, da sie in der Regel auf mehr Unterstützung von Seiten der Lehrerinnen und Lehrer angewiesen sind.
Methoden und Vorgehensweise
Für ihre Studie greifen Tim Fütterer und seine Kolleginnen und Kollegen auf Populationsdaten der norwegischen Bevölkerung zurück. „Bislang haben vorrangig Ökonomen und Mediziner mit einem solchen Datensatz in Norwegen gearbeitet.“ Der Zugang zu diesen Daten ist erst seit kurzer Zeit für Bildungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler möglich.
Für Fütterer ist diese enorme Datenmenge deshalb ein wahrer Segen, schließlich können damit verschiedenste Bezüge zwischen den Schulleistungen der Schülerinnen und Schüler und anderer Parameter hergestellt werden.
„Wir können zum Beispiel – anonym - für jeden Schüler und jede Schülerin das Bildungsniveau und Einkommen der Eltern ermitteln,“ so Fütterer weiter. „Dadurch kann der sozioökonomische Hintergrund zuverlässig ermittelt werden, weil wir nicht auf Selbstauskünfte angewiesen sind.“
Zwar gibt es bereits einige Studien, die sich mit den Auswirkungen von Schulschließungen auf Leistungen von Schülerinnen und Schülern beschäftigen. Keine davon ist in Bezug auf die Datenlage und die anwendbaren statistischen Verfahren jedoch so umfangreich, wie jene von Tim Fütterer und seinen Kolleginnen und Kollegen.
„Soweit ich das Feld überblicke, wird unsere Studie die erste zu diesem Thema sein, die aufgrund der ausgeprägten Datenstärke und der Anwendung verschiedener statistischer Methoden kausale Schlussfolgerungen ernsthaft zulässt.“, erklärt der Bildungsforscher.
Er und seine Kolleginnen und Kollegen analysieren in ihrer Studie mehrere Schülerkohorten. Im ersten Schritt werfen sie einen Blick auf jene Phase der Schulschließungen, die am 12. März 2020 begonnen und bis in den Sommer hinein angedauert hatte.
„In dieser Phase sind keine differentiellen Effekte mit Blick auf die Dauer der Schulschließungen zu erwarten.“, erklärt Fütterer. „Schließlich waren von diesem ersten Lockdown und den damit einhergehenden Schulschließungen alle Schülerinnen und Schüler gleichermaßen betroffen.“
Spannender sei hingegen die Phase der partiellen Öffnungen, die das Team im zweiten Schritt untersucht. Diese fand ab Herbst 2020 statt. Die norwegischen Schülerinnen und Schüler waren ab diesem Zeitpunkt unterschiedlich stark von Schulschließungen betroffen – je nachdem, wo das Infektionsgeschehen im Land stark ausgeprägt war. Dieser Umstand erlaubt es, Vergleiche zwischen Schulschließungen unterschiedlicher Dauer zu ziehen.
Ziel
Die Ergebnisse dieser Studie sollen Expertinnen und Experten dabei helfen, in zukünftigen Ausnahmesituationen fundierte Kosten- und Nutzenrechnungen bezüglich Lockdowns inklusive Schulschließungen durchzuführen.
Die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern sollten auf eine hinreichende Datenlage aus der Coronazeit zurückgreifen können, um zukünftig evidenzbasiert abschätzen zu können, welche Auswirkungen das längerfristige Schließen von Schulen auf Schülerinnen und Schüler aus den verschiedenen Bevölkerungsschichten und mit verschiedenen Leistungsniveaus haben kann.
„Die Erkenntnisse unserer Untersuchung können auch deutschen Politikerinnen und Politikern bei der Entscheidungsfindung in Bezug auf Schulschließungen in zukünftigen Krisensituationen helfen“, sagt Fütterer. Es gelte jedoch zu beachten, dass die Ergebnisse aus Norwegen nur bedingt auf Deutschland übertragbar seien.
„In Norwegen wurde sichergestellt, dass jeder Schüler und jede Schülerin ausreichend mit Lernmaterialien und digitalen Endgeräten versorgt ist. Zudem war und ist Norwegen Deutschland bei der Digitalisierung insgesamt voraus. Daher waren die Schülerinnen und Schüler auf das Homeschooling wahrscheinlich besser vorbereitet als Schülerinnen und Schüler in Deutschland.“.
In Kombination mit den Daten aus anderen Ländern sollen die Daten aus Norwegen zu einem Gesamtbild beitragen, auf dessen Grundlage in Zukunft fundiertere Entscheidungen getroffen werden können – in allen Ländern der Welt.
Dr. Tim Fütterer
Tim Fütterer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung und Mitglied des LEAD Graduate School & Research Network.
Seine Forschungsinteressen beziehen sich auf die Professionalisierung von Lehrpersonen und liegen in der Verknüpfung von (Online-)Lehrerfortbildungen, Digitalisierung, Unterrichtsqualität und reflexiven Prozessen.