Auf die Lehrkraft kommt es an. Hausaufgaben fördern die Persönlichkeitsentwicklung. Motivierte Eltern unterstützen ihre Kinder besser als nichtmotivierte Eltern. Mit solchen und anderen Meldungen erregen die Empirischen Bildungsforscher aus Tübingen immer wieder Aufmerksamkeit. Doch sind diese Erkenntnisse nicht ziemlich banal? Das fragten wir vor einiger Zeit im TAGBLATT. Prof. Ulrich Trautwein, Direktor des Tübinger Hector-Instituts, wollte das nicht auf sich sitzen lassen und lud uns zu einem Gespräch ein über die Bedeutung und den Nutzen von Empirischer Bildungsforschung.
Herr Trautwein, Sie sind als Wissenschaftler sehr erfolgreich. Ihr Institut wirbt viele Drittmittel ein, gerade erst haben Sie es im Kampf um ein Exzellenz-Cluster in die letzte Runde geschafft. Trotzdem wird die Empirische Bildungsforschung immer wieder kritisiert. Was stört die Leute eigentlich an Ihrer Disziplin?
Besonders heftige allergische Reaktionen beobachten wir, wenn wir einzelne pädagogische Methoden infrage stellen, weil wir nicht glauben, dass es die eine Methode gibt, die allen hilft. Diejenigen, die diese Methode vertreten, sind dann verärgert. Kritik aus der Wissenschaft an unserer eigenen Arbeit ist prinzipiell erwünscht: Der Wettstreit um die besten Ideen ist ein Merkmal guter Wissenschaft. Aber natürlich gibt es immer wieder auch Neid und unsachliche Angriffe, wenn jemand seine Felle davon schwimmen sieht: Das ist vermutlich nur allzu menschlich. Insgesamt erfahren wir von Kollegen, der Öffentlichkeit, Bildungsverwaltung und Politik aber große positive Resonanz.
Einiges Aufsehen erregten Sie vor drei Jahren, als Sie in Vorträgen darauf verwiesen, dass es in der Bildung vor allem „auf die Lehrkraft“ ankomme. Ist das nicht eine banale Erkenntnis?
Nun, Sie haben unsere Forschung im TAGBLATT aus dem Zusammenhang gerissen und trivialisiert. Wir haben das ja damals in einer Situation platziert, als die komplette Politik über nichts anderes gestritten hat als über Gemeinschaftsschule oder nicht. Wir haben damals gesagt: „Liebe Leute, Ihr verwendet 90 Prozent der Zeit auf Sachen, die nur 10 Prozent des Lernerfolgs erklären.“
Weil es auf die Lehrer ankommt und weniger auf die Schulform?
Wir haben darauf hingewiesen, dass alles, worum es damals ging, wissenschaftlich nicht hinterlegt war. Es sind eben nicht einzelne Methoden, die in einer Klasse zum Lernerfolg führen, sondern es ist vor allem die Kompetenz der Lehrkraft, unterschiedliche Methoden sachdienlich einzusetzen. Darauf haben wir hingewiesen, um die Debatte in die richtige Richtung zu lenken.
Dass Lehrer gut sein sollten, ist als solches keine ganz neue Erkenntnis. Woran erkennt man denn, ob eine Lehrkraft etwas kann?
An drei Faktoren. Da geht es erstens ums Classroom-Management: Herrscht in der Klasse eine lernförderliche Atmosphäre, ist strukturiertes, geordnetes Lernen möglich? Zweitens geht es um die kognitive Aktivierung: Kommt man wirklich in den Hirnen der Schüler an oder haben die auf Durchzug geschaltet? Und drittens um die Schüler-Lehrer-Beziehung: Schafft man es, jeden einzelnen Schüler mitzunehmen?
Das kann der eine Lehrer gut, der andere weniger, oder?
Lehrkräfte sind in diesen drei Bereichen tatsächlich sehr unterschiedlich erfolgreich. Deshalb interessiert es uns sehr, wie es gelingen kann, dass sich Lehrkräfte in diesen drei Qualitätsdimensionen der Unterrichtsgestaltung verbessern können. Die Lehrerfortbildung ist eine zentrale Aufgabe jeder Bildungspolitik.
Die schlechten Schüler mitzunehmen: Das scheint eines der großen Probleme in der baden-württembergischen Bildungslandschaft zu sein.
Ja, Baden-Württemberg hat auffällig viele leistungsschwache Schüler und sich in Schulleistungsstudien in den vergangenen Jahren im Vergleich zu anderen Bundesländern kontinuierlich verschlechtert. Es gab bei uns jede Menge Reformen, aber deren Erfolg wurde nicht selbstkritisch überprüft. Hamburg dagegen wurde lange verlacht, aber hat eine systematische Kultur des Hinschauens etabliert und dabei stets wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt. Jetzt fahren sie die Rendite ein.
Wie lange dauert es, bis sich positive Wirkungen von Reformen entfalten?
Das dauert in der Regel viele Jahre. Der Lernerfolg hängt ja von vielen Faktoren ab, von Lehrkräften, Eltern, dem sozialen und politischen Umfeld. Wenn Sie zum Beispiel die Lehrerausbildung oder Lehrerfortbildung verbessern, braucht es viel Zeit, bis die Veränderungen in den Schulen ankommen.
Wo könnte man denn kurzfristig dran drehen?
Sie können die Stimmung im System beeinflussen, die Motivation erhöhen, die Erfolgszuversicht aller Beteiligten. Da stellen sich positive Konsequenzen schneller ein. Aber in der gegenwärtigen Lage, in der Lehrkräften ohnehin schon sehr viel zugemutet wird, ist das leichter gesagt als getan.
Sie sind skeptisch gegenüber Projekten wie der Gemeinschaftsschule oder der Inklusion.
Mir ist es ein großes Anliegen, dass Projekte wie die Gemeinschaftsschule und die Inklusion zu einem Erfolg werden. Deshalb muss man sie professionell betreiben und nicht ideologisch. Heute sieht man: Die größten Befürworter der Gemeinschaftsschule in der Politik haben der Idee der Gemeinschaftsschule am meisten geschadet, weil sie sich an Ideologie geklammert haben, anstatt rechtzeitig genau hinzuschauen. Ich bin sicher: Es gibt hervorragend funktionierende Gemeinschaftsschulen, die in idealer Weise einen hohen Leistungsanspruch und eine passgenaue Unterstützung der Schüler zusammen bringen.
Sie verwenden gern Begriffe wie Erfolg oder Leistung. All das ist traditionell eher konservativ besetzt.
Wenn man die „Leistung“ gegen die „Bildungsgerechtigkeit“ oder gar das „Wohlbefinden“ von Kindern ausspielt, hat man schon verloren. Alle drei Ziele sind wichtig und werden von guten Schulsystemen simultan und erfolgreich gefördert. Es ist wichtig, dass es dafür einen breiten gesellschaftlichen Konsens gibt, und den erkenne ich sowohl bei der grün-schwarzen Landesregierung als auch bei früheren Regierungsparteien.
Muss man Schüler fordern?
Leistungsdruck per se kann vieles kaputtmachen. Im Fußball ist das der Unterschied zwischen Felix Magath und Jürgen Klopp. Beide wollen Leistung sehen, aber der eine macht es mit Druck, der andere mit Motivation. Die Idee, man müsste Schüler schonen, halte ich für falsch. Gerade bei leistungsschwachen Schülern ist es wichtig, anspruchsvolle Ziele zu definieren. Sonst vermittelt man ihnen das Gefühl, dass sie nichts wert sind, dass man sie aufgibt. Wenn man in einem individualisierten Unterricht bei den weniger guten Schülern die Anforderungen stark senkt, führt das dazu, dass die Leistungsunterschiede am Ende größer werden. Bei Schülern, die die Mindeststandards im Lesen und Rechnen nicht erreichen, ist langfristig die gesellschaftliche Teilhabe gefährdet – eine Katastrophe für die Betroffenen und die Gesellschaft.
Andererseits müssen die schlechten Schüler im Unterricht auch mitkommen.
Richtig. Die Lehrer müssen anspruchsvolle Ziele definieren und dafür sorgen, dass die Schüler auch die Hilfe bekommen, die sie dafür brauchen. Damit diese zielgerichtete Hilfe von den Lehrkräften und Schulen auch geleistet werden kann, brauchen die Schulen mehr Unterstützung.
Die CDU forderte vor kurzem mehr Diktate, Frontalunterricht und mehr Schönschreib-Übungen. Was halten Sie davon?
Ich lese aus den jüngeren Verlautbarungen der CDU-Fraktion eine große Sorge um die Leistungsfähigkeit des Schulsystems heraus, die berechtigt ist. Die Herausforderungen werden mit einer sich ändernden Schülerschaft vermutlich in Zukunft eher noch größer werden. Dass man diesen Herausforderungen mit mehr Frontalunterricht und Schönschrift-Übungen effektiv begegnen kann, darf bezweifelt werden.
Wird in Baden-Württemberg auf Leistung zu wenig Wert gelegt?
Es gibt in Baden-Württemberg eine Verunsicherung, was das Thema „Leistungsansprüche“ angeht. Welche Leistungsanforderungen empfinden die Eltern und Schüler in modernen demokratischen Zivilgesellschaften als „zumutbar“? Welche Ansprüche sind von Schulen durchsetzbar? Wie verbindet man das Ziel der Leistungsexzellenz mit der Verminderung von Leistungsunterschieden? Scheinbar einfache Lösungen erweisen sich hier oft als Holzweg.
Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Nehmen Sie die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung. Vordergründig wollte man mehr Bildungsgerechtigkeit erzielen. Ob dies erreicht wurde, ist aber nie untersucht worden und darf bezweifelt werden. Was man dagegen sieht: An den Gymnasien sind die Sitzenbleiber- und Schulwechslerzahlen nach oben gegangen; für die betroffenen Schüler ist das ein biographischer Bruch, der nach Möglichkeit vermieden werden sollte. Zugleich entwickelt sich die Gemeinschaftsschule zur Restschule, was der Gemeinschaftsschule massiv geschadet hat. Das war politisch eindeutig ein Eigentor.
Wäre es anders gelaufen, wenn man Sie gefragt hätte?
Ein von der Landesregierung eingesetzter Expertenrat, in der ich Mitglied war, hat 2011 darauf hingewiesen, dass in Baden-Württemberg, anders als in allen anderen Bundesländern, viele Schüler mit Gymnasialempfehlung gar nicht aufs Gymnasium gingen, und darunter viele Schüler mit weniger günstigem sozialen Hintergrund. Eine „Unterstützungsgarantie“ für diese Schüler, wenn sie aufs Gymnasium wechseln, wäre ein Ansatz gewesen, um die Zahl der Abiturienten sowie die Bildungsgerechtigkeit zu erhöhen.
Was kann die Bildungsforschung tun, um die Bildungspolitik bei großen Reformen zu beraten?
Die Bildungsforschung kann auf der Basis von vorhandenen Theorien und empirischen Befunden auf Chancen, Risiken und Nebenwirkungen aufmerksam machen. Wird eine Reform durchgeführt, kann sie durch wissenschaftliche Studien eng begleitet werden – man nennt dies „formative Evaluation“. Diese hilft, rasch zu sagen, Vorsicht, da läuft was schief, da solltet Ihr intervenieren. Hinterher, in Form einer „summativen Evaluation, kann man feststellen: Die Ziele wurden erreicht oder nicht. Dafür braucht es aber ordentliche Studien, die auf mehrere Jahre angelegt sind.
Ein Beispiel für eine große Reform im Bildungswesen ist auch die Inklusion. War das sinnvoll?
Bei der Inklusion gibt es eine gesellschaftliche Ebene. Auf dieser Ebene geht es um Werte, um die Umsetzung der UN-Konvention, um moralische Ansprüche der Gesellschaft. Als Bürger schmerzt es mich zu sehen, wie weit entfernt wir davon sind, Personen mit Behinderungen eine umfassende gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Als Wissenschaftler müssen wir aber untersuchen, welche Maßnahmen sich als effektiv erweisen. Wir können beispielsweise fragen: Sind die Inklusuionsschüler glücklicher, wenn sie mit nicht behinderten Kindern in einer Klasse sitzen? Und da ist die Antwort: Die Eltern sind es vielleicht, die Inklusionsschüler nur unter bestimmten Voraussetzungen, die oft nicht erfüllt sind und deren Erfüllung vom Staat vielleicht nur teilweise garantiert werden kann.
Eine Erkenntnis, die eher bei Konservativen gut ankommt?
Nein. Ich erlebe quer durch die Bank Zuspruch, wenn wir unangenehme Wahrheiten ansprechen, insbesondere auch von Lehrkräften. Bildungsforschung ist besonders wertvoll, wenn sie unideologisch ist und nicht geprüfte Behauptungen hinterfragt. Reformen beispielsweise gelingen nicht dadurch, dass man sie ständig beklatscht, sondern dadurch, dass man sie ständig hinterfragt und an Verbesserungen arbeitet. Wir konzentrieren uns als Wissenschaftler auf Zahlen und, soweit das möglich ist, „Fakten“. Schlussfolgerungen für politisches Handeln müssen andere ziehen.
Nun ist die Bildungsforschung aber auch nicht die Physik oder die Medizin, wo man Experimente machen kann und eindeutige Ergebnisse bekommt.
Zahlen müssen interpretiert werden, das ist klar, und Erkenntnisse können widerlegt werden. Das gilt für alle Disziplinen.
In der Medizin gibt es aber zum Beispiel den Doppelblindtest, mit dem die Wirkung von Medikamenten ziemlich objektiv erfasst werden kann. So etwas haben Sie nicht.
Klar. Sie können eine pädagogische Maßnahme nicht testen, ohne dem Lehrer vorher zu sagen, worum es geht. Zudem verändert sich die Gesellschaft, weshalb es auch sein kann, dass sich die Effektivität bestimmter pädagogischer Maßnahmen ändert. Und wir dürfen nicht vergessen, dass es Lehrkräfte fast immer gleichzeitig mit vielen Schülern und nicht einem isolierten „Patienten“ zu tun haben, was die Komplexität enorm vergrößert. Ein Kollege hat deshalb die Bildungsforschung einmal die „anspruchsvollste aller Wissenschaften“ genannt.
Anspruchsvoll, aber trotzdem in Gefahr, banal zu werden, weil sich vieles eben nur schwer verallgemeinern lässt. Was in der 6c super funktioniert, kann schließlich in der 6b schon total schief gehen.
Mit dem richtigen Untersuchungsdesign bekommen Sie zumindest Anhaltspunkte dafür, warum es in der 6b schief geht. Genau dafür brauchen wir große, oftmals teure Studien, an denen teilweise mehrere tausend Schüler teilnehmen.
Studien, die viel Zeit und Geld kosten.
Das Geld ist gut investiert, wenn es zu Erkenntnissen und Verbesserungen führt. Fragen Sie mal all die Schulleiter, Lehrkräfte, Eltern und Schüler, die an und in Schulen verzweifeln. Das Geld für unsere Studien bekommen wir übrigens zum Großteil von Stiftungen sowie im Rahmen von erfolgreichen Anträgen, die sehr genau begutachtet wurden.
Ohne Rückgriff auf wissenschaftliche Studien machen Bildungspolitiker eine sinnlose Reform nach der anderen?
Die Gefahr steigt, dass Politik gemacht wird, die auf den Anekdoten von zwei, drei Schulleitern oder auf dem eigenen, individuellen Bauchgefühl basiert. Keine Frage: Mit dem Bauchgefühl kann man richtig liegen, aber über die Zeit erhöht der Wissenschaftsbezug die Wahrscheinlichkeit, angemessene Entscheidungen zu treffen – und hilft, Fehlentscheidungen schneller zu entdecken und korrigieren zu können.
Denken Sie bei Ihrer Kritik an den Entscheidungen in der Politik an CDU- oder an SPD-Minister?
Es ist nicht so, dass eine Partei ein Privileg hat für Ideologieanfälligkeit, und ich habe in allen Parteien aus dem nicht-radikalen Spektrum enorm kompetente Gesprächspartner kennen gelernt. Das Problem liegt bisweilen an anderer Stelle: Für eine evidenzorientierte Bildungspolitik benötigen die Politiker eine geeignete Datengrundlage und entsprechende Fachexpertise in der Bildungsadministration, die in Baden-Württemberg und vielen anderen Ländern erst noch verbreitert und dauerhaft gepflegt werden muss. Die in Baden-Württemberg nun ansetzenden Reformen, die die Ideologieanfälligkeit reduzieren können, werden nach meinem Eindruck von links und rechts unterstützt – zumindest in der groben Zielrichtung.
Das Interview mit LEAD-Direktor Ulrich Trautwein erschien in der Ausgabe des Schwäbischen Tagblatts vom 10. März 2018.