Vor der Sommerpause endet das Schuljahr für viele der rund 11 Millionen Schülerinnen und Schüler noch einmal mit einem emotionalen Paukenschlag: Die Noten wurden offiziell eingetragen und in Kürze werden die Zeugnisse ausgegeben. Vermutlich wird auch dieses Jahr wieder eine große Spannung aus Freude über gute Noten und die bevorstehenden lang ersehnten Ferien und Enttäuschung über schlechte Leistungen und unfaire Beurteilungen in der Luft liegen.
Fast jedes Jahr wird die Zeugnisvergabe begleitet von großen gesellschaftspolitischen Kontroversen über die Bedeutung, Vergleichbarkeit und letztlich den Sinn oder Unsinn von Schulnoten. In diesen oft sehr emotional geführten Diskussionen verweisen Kritikerinnen und Kritiker von Noten zumeist auf Risiken für die Lernfreude und das schulische Wohlbefinden von Schülerinnen und Schülern. Zudem werden Bedenken geäußert, dass Noten für die Umsetzung von Lernkulturen, die stärker auf den Lernprozess und nicht primär auf das Ergebnis ausgerichtet sind, hinderlich seien.
Befürworterinnen und Befürworter von Noten betonen in diesen Debatten hingegen wichtige Funktionen von Noten, beispielsweise in Bezug auf die Kommunikation mit Eltern, das Setzen von Anreizen zur Leistungsverbesserung oder bezüglich der Prognose zukünftiger Leistungen von Schülerinnen und Schülern. Eine Abschaffung von Noten, so die vielfach vorgetragene Argumentation, käme einer Verabschiedung von Leistungsprinzipien gleich. Lehrkräfte berichten zudem davon, dass Schülerinnen und Schüler Noten häufig auch aktiv einfordern, weil sie sich davon Klarheit und Transparenz versprechen.
Was sagt die Empirische Bildungsforschung zu diesen Argumenten?
Zum einen existieren zahlreiche Studien, die zeigen, dass Noten von Schülerinnen und Schülern nur schwer miteinander vergleichbar sind. Dies resultiert aus unterschiedlichen Faktoren, beispielsweise bestimmten Beobachtungs- und Beurteilungsfehlern oder Unterschieden bei der Wahl und Gewichtung verschiedener Bezugsnormen (zum Beispiel der individuellen oder der sozialen Bezugsnorm) bei der Notenvergabe.
Gleichzeitig tragen auch strukturelle Aspekte (zum Beispiel Reformen oder bundeslandspezifische Regelungen) dazu bei, die Vergleichbarkeit und Bedeutung von Noten in Bezug auf die zugrundeliegenden Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern insgesamt weiter zu verwässern. Darüber hinaus existieren internationale meta-analytische Befunde, die Vorteile von schriftlichen Rückmeldungen im Vergleich zu einer Notenvergabe für die Entwicklung der Leistung und Motivation von Schülerinnen und Schülern nahelegen.
Neben diesen eher ernüchternden Ergebnissen gibt es aber auch eine Reihe diskutierter Gründe, die eher gegen eine Abschaffung von Noten sprechen. Zum einen zeigen verschiedene Studien, dass Schulnoten trotz ihrer Probleme in einem substanziellen Zusammenhang mit zukünftigen Noten im Studium oder einem erfolgreichen Studienabschluss stehen. Studien aus den USA legen nahe, dass Noten den Abschluss des Colleges innerhalb der Regelstudienzeit sogar besser vorhersagen können als Ergebnisse aus standardisierten Leistungstests.
Darüber hinaus existieren kaum belastbare Studien, die Auswirkungen einer flächendeckenden Einführung alternativer Formen der Leistungsbeurteilung systematisch untersucht haben. Eine differenzierte Abschätzung der Effekte solcher Maßnahmen und der Effekte von Maßnahmen zur Abschaffung von Noten ist auf dieser Basis aktuell nicht möglich.
In der Praxis lassen sich inzwischen vermehrt hybride Konzepte aus Noten und alternativen Formen der Leistungsbeurteilung finden, die versuchen, „das Beste aus beiden Welten“ zu vereinen. Ob solche Konzepte flächendeckend gelingen können und welche neuen Möglichkeiten zur Etablierung alternativer Prüfungskulturen sich gerade auch im Zuge der zunehmenden Digitalisierung von Schule und Unterricht und der Entwicklung neuer KI-Tools perspektivisch noch bieten, wird sich in zukünftiger Forschung zeigen.
Weder Noten noch alternative Formen der Leistungsbeurteilung sind per se schlecht oder gut
Am Ende spiegelt sich in diesen Entwicklungen in der Praxis zumindest in Teilen auch eine wichtige wissenschaftliche Erkenntnis wider: Weder Noten noch alternative Formen der Leistungsbeurteilung sind per se schlecht oder gut. Entscheidend ist am Ende die Qualität der jeweiligen Mitteilungsform.
Bisherige Wissensbestände deuten zum Beispiel in Bezug auf die Verbesserung der Objektivität von Noten an, dass Standardisierungsprozesse generell hilfreich sein können, um ihre Vergleichbarkeit zu erhöhen. So sind Leistungsmessungen und Prüfungen, die einheitlich durchgeführt und ausgewertet werden, weitaus weniger anfällig für viele der genannten Probleme von Noten.
An Stellen im Bildungswesen, an denen die Vergleichbarkeit von Leistungen zentral ist (zum Beispiel bei Übergängen), führt also kaum ein Weg daran vorbei, den Prozess der Leistungsbeurteilung insgesamt stärker zu standardisieren. Ganz in diesem Sinne hat die Kultusministerkonferenz beispielsweise erst kürzlich die Rahmenbedingungen für die gymnasiale Oberstufe weiter angepasst, mit dem Ziel, die Vergleichbarkeit von Noten länderübergreifend zu erhöhen.
Gleichzeitig ist wissenschaftlich ebenfalls gut dokumentiert, dass Noten, isoliert betrachtet, nur in einem sehr geringen Ausmaß Informationen zur Leistungsverbesserung beinhalten. Geht es also darum, Schülerinnen und Schülern eine lernförderliche Leistungsrückmeldung zu geben, sind viele der unter dem Stichwort „alternative Formen der Leistungsbeurteilung“ diskutierten Formate (zum Beispiel Kommentare, Rasterzeugnisse oder Lernentwicklungsgespräche) vielversprechend, da sie näher am Lernprozess verortet sind und den Schülerinnen und Schülern somit konkrete Hinweise zu Stärken und Entwicklungsperspektiven aufzeigen können.
Insgesamt lässt sich resümieren, dass die Forschungslage zur Diskussion um die Abschaffung von Noten weitaus weniger entwickelt als es die leidenschaftlich geführten Debatten vermuten lassen. Bisher ist weitestgehend unklar, für wen welche klassischen und alternativen Formate der Leistungsbeurteilung zu welchem Zeitpunkt und in welcher Variante (besonders) lernwirksam sind und für wen nicht. Hieraus ergeben sich auch in der schulischen Praxis an vielen Stellen enorme Herausforderungen, die die Empirische Bildungsforschung in den nächsten Jahren gezielter in den Blick nehmen muss.
Zum Weiterlesen:
Einen guten Startpunkt zum Weiterlesen für Praktikerinnen und Praktiker bietet die Publikationsreihe „Wirksamer Unterricht“ des Instituts für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW)