
Zu Beginn meines Studiums an der Universität Tübingen beschäftigten wir uns in einem Kurs mit unterschiedlichen Lernpsychologischen Theorien. Mir fiel auf, dass all diese Forschungsarbeiten in westlichen Ländern durchgeführt wurden. Aufgrund der sozialen und historischen Unterschiede zwischen östlichen und westlichen Ländern habe ich mich deshalb gefragt, inwieweit sich die Forschungsergebnisse auch auf Menschen mit einem anderen soziokulturellen Hintergrund anwenden lassen.
Anlass zu weiteren Recherchen gab mir ein Treffen mit Kommilitoninnen und Kommilitonen in einem Restaurant. Ein Kommilitone erzählte, dass er an seinem früheren Gymnasium einen Vortrag gehalten hatte. Daraufhin begann ich, weitere Bekannte zu fragen, ob es üblich für Studierende in Deutschland ist, die ehemalige Schule und ehemalige Lehrpersonen zu besuchen und wie die Beziehungen zwischen Schülern und Lehrpersonen generell aussieht. Die Antwort hat mich überrascht: In Deutschland kommt es eher selten vor, dass Studierende ihre frühere Schule besuchen, und die Beziehungen zwischen Lehrpersonen und Schülern ist nicht sonderlich eng.
Ich hingegen habe bis heute eine sehr enge Beziehung zu den Lehrerinnen und Lehrern meiner Sekundarschule und wende mich an sie, wann immer ich einen Rat brauche. Für mich ist es normal, dass Schüler und Lehrpersonen in Kontakt bleiben. Dieser Kontrast in der Lehrer-Schüler-Beziehung* zwischen Deutschland und Taiwan hat mein Interesse geweckt, diesen kulturellen Unterschieden auf die Spur zu gehen.
Kollektiv oder individuell: Universitätsleben in Taiwan und Deutschland
Nicht nur in der Schule, auch im Universitätsleben gibt es große Unterschiede. Einer der größten sind die Gruppenaktivitäten. In Taiwan gibt es an den Universitäten, ähnlich wie in der Schule, ein Klassensystem und jede Klasse hat einen eigenen Klassenlehrer. Viele Aktivitäten, darunter auch Seminare werden in Klassen durchgeführt und der Klassenlehrer und die Studierenden essen, in mehrere Gruppen aufgeteilt, einmal pro Semester gemeinsam zu Abend.
Außerdem treten die meisten Studierenden in Taiwan Clubs bei und verbringen hier einen großen Teil ihrer Zeit. Einige Universitäten in Taiwan verlangen es sogar, dass die Studierenden einem Club beitreten. Im Gegensatz zum kollektiv geprägten Universitätsleben in Taiwan ist das Universitätsleben in Deutschland um einiges individueller. In Deutschland gibt es in der Universität keine Klassen und damit auch keine Klassenlehrkräfte, sondern lediglich gemeinsame Hauptfächer. Zudem spielen Clubs im Universitätsleben an deutschen Hochschulen eine vergleichsweise geringe Rolle.
Untersuchungen zeigen, dass die affektive Qualität, also die eher gefühlsbetonte Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung entscheidend ist für die soziale, emotionale und akademische Entwicklung der Schülerinnen und Schüler [1,2,3,4]. Die Unterschiede zwischen einer kollektiv geprägten Gesellschaft und einer individuell orientierten Gesellschaft führen jedoch zu unterschiedlichen Sichtweisen auf diese Beziehungen [5,6]. Kulturelle Werte, wie z. B. Normen, können die Art und Weise beeinflussen, wie Schüler oder Studierende und ihre jeweiligen Lehrpersonen miteinander interagieren [7]. Ich möchte hier auf die kulturellen Unterschiede und Ansichten der Lehrer-Schüler-Beziehung in Taiwan und Deutschland eingehen.
Die Lehrer-Schüler-Beziehung in Taiwan und Deutschland
Einer der größten Unterschiede zwischen der Lehrer-Schüler-Beziehungen in Taiwan und Deutschland ist die Art und Weise, wie Lehrpersonen und Schüler bzw. Studierende miteinander interagieren. In Taiwan wird erwartet, dass sie sich der Lehrperson (wie allen Älteren) gegenüber respektvoll verhalten. Zum Beispiel stimmen sowohl Schüler als auch Studierende der Meinung der Lehrperson in der Regel zu und widerlegen oder zeigen nur selten, dass sie deren Meinung nicht teilen. In der traditionellen chinesischen Kultur haben Lehrpersonen einen ‚höheren Status‘ als ihre Schüler und verhalten sich ähnlich wie deren Eltern. Im Gegensatz dazu wird von den Schülern und Studierenden in Deutschland erwartet, dass sie ihre eigene Meinung darlegen und eigene Standpunkte einnehmen. Sie werden dazu ermutigt, eigene Ideen zu entwickeln und diese sowie ihre Meinung in den Unterricht einzubringen.
Nach Daphna Oyserman und Spike Lee [8] wird der Unterschied zwischen individualistischen und kollektivistischen Kulturen mit psychologischen Kernkonstrukten wie den Beziehungen zu anderen Personen in Verbindung gebracht. Schaut man sich beispielsweise an, wie Menschen Konflikte lösen, so neigen Individuen in individualistischen Kulturen dazu, direkte und durchsetzungsstarke Strategien anzuwenden, während Menschen in kollektivistischen Kulturen dazu neigen, Störungen durch Kompromisse und Distanzierung zu vermeiden [9].
Seit den 1990er Jahren wird argumentiert, dass die Bindungstheorie auch für die Lehrer-Schüler-Beziehungen gilt [10,11]. Was jedoch als ‚hilfreiche‘ bzw. ‚angemessene‘ Bindungsbeziehungen angesehen wird, kann sich je nach Kulturkreis unterscheiden [12,13,14,15]. Zusammenfassend kann damit festgehalten werden, dass die Lehrer-Schüler-Beziehung in kulturelle Werte und Normen eingebettet ist und von diesen beeinflusst wird.
Interkulturelle Unterschiede in der Lehrer-Schüler-Beziehung am Beispiel Taiwan-Deutschland
Nähe
Nähe ist eine der wichtigsten Dimensionen der Lehrer-Schüler-Beziehung. Sie wird definiert als der Grad der Wärme und Offenheit in der Beziehung [16,17]. Deutlich wird dies zum Beispiel in Aussagen wie: „Wenn ich mich nicht wohl fühle, bemerkt mein Lehrer das und fragt mich danach“, „Mein Lehrer versteht mich“, „Wenn ich mich unwohl fühle, kann ich meinen Lehrer um Hilfe bitten“. Hier liegt einer der größten Unterschiede zwischen der Lehrer-Schüler-Beziehung in Taiwan und Deutschland. In Deutschland liegt der Fokus auf der Wissensvermittlung. Schüler bzw. Studierende und Lehrpersonen sprechen miteinander selten über ihr Privatleben oder persönliche Erfahrungen im Unterricht. Außerhalb der Schule haben Lehrpersonen und Studierende selten privaten Kontakt.
Im Gegensatz dazu teilen Lehrpersonen und Schüler in Taiwan mehr über ihr Privatleben und ihre Erfahrungen im Unterricht mit. Die Lehrpersonen kümmern sich nicht nur um die Wissensvermittlung, sondern auch um die geistige Verfassung der Studierenden und verbringen oft viel Zeit damit, einzeln mit ihnen zu sprechen. Außerdem begegnen sich Lehrpersonen und Studierende in Taiwan oft auf freundschaftlicher Ebene. Nicht selten sind Lehrpersonen und Schüler bzw. Studierende in sozialen Netzwerken wie Facebook oder Instagram miteinander befreundet. Auch kehren Studierende in Taiwan häufig an ihre Schulen zurück, um ihre ehemaligen Lehrpersonen zu besuchen, auf den neuesten Stand zu bringen oder nach Ratschlägen für die persönliche Entwicklung, die Karriere oder das Studium zu fragen. Daher ist die Nähe, meiner Beobachtung nach, einer der größten Unterschiede zwischen der Lehrer-Schüler-Beziehung in Taiwan und Deutschland.
Erwartungshaltung
In „Shi Shuo“, einem in Altchinesisch verfassten Klassiker über Lehrpersonen, wird erwähnt, dass zu den Verantwortlichkeiten von Lehrpersonen Folgendes gehört: Lebensphilosophische Bildung, Wissensvermittlung und das Erteilen von persönlichen Ratschlägen. Die Lebensphilosophische Bildung basiert auf der chinesischen Tradition und schließt den traditionellen chinesischen Lebensstil mit ein, wozu z. B. der respektvolle Umgang mit anderen Menschen gehört. Die Wissensbildung ist im Allgemeinen als Verantwortung einer Lehrperson bekannt: das Unterrichten. Das Erteilen von persönlichen Ratschlägen bedeutet hier vor allem Zweifel abzubauen, also die wissensbezogenen Fragen der Schülerinnen und Schüler zu beantworten und ihnen Anregungen oder Ratschläge zu persönlichen Fragen zu geben. In der traditionellen chinesischen Kultur ist die Erwartungshaltung der Gesellschaft an Lehrpersonen entsprechend größer als in Deutschland. Von Lehrpersonen wird erwartet, dass sie nicht nur Wissen vermitteln, sondern sich auch um das Verhalten und die Mentalität der Schüler kümmern. Die höhere Erwartung und die größere Verantwortung der Lehrperson in der chinesischen Kultur könnten daher zu einer engeren Beziehung zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern in Taiwan beitragen.
Fazit
Eine wachsende Anzahl von Forschungsarbeiten hat die Auswirkungen der Qualität von Lehrer-Schüler-Beziehungen auf die akademische Motivation von Studierenden untersucht [18,19]. Heather Davis [20] weist darauf hin, dass die Lehrer-Schüler-Beziehung eine Kernfunktion in der Entwicklung der emotionalen, sozialen und akademischen Fähigkeiten der Studierenden bildet. Darüber hinaus sind ‚gute‘ Beziehungen zu Lehrern und Eltern ein wichtiger Prädiktor für ein größeres Engagement in der Schule, ein besseres Selbstwertgefühl junger Erwachsener und können intrinsisch motivierte Aktivitäten fördern [21,22].
Kommen Schülerinnen und Schüler auf eine neue Schule oder wechseln auf eine Universität, werden sie mit neuen Herausforderungen konfrontiert, wie z. B. dem Aufbau positiver Beziehungen zu ihren Klassenkameraden und Lehrpersonen. Außerdem müssen sie lernen, den sozialen, kognitiven und akademischen Anforderungen gerecht zu werden [23,24,25]. Studien zeigen, dass eine positive Lehrer-Schüler-Beziehung auch zu einer positiven Lernumgebung beitragen kann, die eine erfolgreiche Umstellung auf den Schulalltag erleichtert und die Lernmotivation der Schülerinnen und Schüler fördert [26].
Darüber hinaus ist es aufgrund der Globalisierung heutzutage immer wahrscheinlicher geworden, dass in einem Klassenzimmer Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen nebeneinander sitzen. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass Lehrpersonen sensibel und bewusst auf kulturelle Unterschiede eingehen und die unterschiedlichen Werte der Lehrer-Schüler-Beziehungen erklären. Eine unterstützende und sichere Lernatmosphäre kann den Schülerinnen und Schülern dabei helfen, sich den Lehrpersonen gegenüber zu öffnen [27].
Der Beitrag ist entstanden im Seminar „Vertiefung: Pädagogische Psychologie“ von Prof. Christian Fischer.
Aus Gründen der Lesbarkeit konnten in diesem Artikel nicht alle Personenbezeichnungen geschlechtergerecht formuliert werden. Daher wurde die männliche Form gewählt, es ist jedoch immer die weibliche Form mit einbezogen.
Zum Weiterlesen:
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