Sophies Lehrkräfte sind beunruhigt. Die Achtjährige ist verträumt und vergesslich. Auch fällt es ihr schwer, still zu sitzen und zu warten, bis sie an der Reihe ist. Ihre Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität sind Symptome einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS. ADHS ist eine medizinische Diagnose, die bei Kindern mit einer starken Ausprägung dieser Schwierigkeiten gestellt wird; Kinder ohne diese Diagnose können ebenso, aber in geringerem Maße, betroffen sein. Ohne Unterstützung sind Sophies Lernerfolg und schulischen Leistungen möglicherweise gefährdet. Für Sophies Lehrkräfte stellt sich nun die Frage, wie sie ihre Entwicklung, ihr Lernen und ihre schulischen Leistungen am besten unterstützen können.
Veränderungen im Klassenzimmer
Sophies Konzentrations- und Verhaltensschwierigkeiten in der Schule können auch daran liegen, dass das Klassenzimmer und die Lernumgebung ihren Bedürfnissen nicht gerecht werden. In Einklang mit der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sollten ihre Lehrkräfte daher Anstrengungen unternehmen, um ihre Lernumgebung passender zu gestalten. Hilfestellung bieten beispielsweise Leitlinien für den Umgang mit ADHS-Symptomen innerhalb und außerhalb des Klassenzimmers. Mit Unterstützung von Experten, zum Beispiel Schulpsychologen, können sie umgesetzt werden. Und obwohl es große Unterschiede bei Kindern mit einer ADHS-Diagnose gibt, können Lehrkräfte einige Maßnahmen ergreifen, um Schülerinnen und Schülern wie Sophie zu helfen.
Sie können beispielsweise die Richtlinien des Universellen Designs für das Lernen (engl.: Universal Design for Learning) umsetzen. Diese haben zum Ziel, sicherzustellen, dass alle Schülerinnen und Schüler vergleichbare Möglichkeiten haben, erfolgreich zu sein. In der Praxis bedeutet dies, dass sie beispielsweise selbst entscheiden können, wie sie auf das Lernmaterial zugreifen, sich mit ihm auseinandersetzen und zeigen, was sie wissen. Dazu können Lehrkräfte Informationen sowohl schriftlich als auch auditiv oder über Simulationen zur Verfügung stellen. Des Weiteren können sie es erlauben, Kopfhörer zur Geräuschunterdrückung während der Stillarbeit zu nutzen, oder sie können die Schülerinnen und Schüler über Rollenspiele und Diskussionen emotional am Unterricht beteiligen. Durch die Flexibilisierung der Unterrichtsgestaltung erhalten alle Schülerinnen und Schüler – unabhängig davon, ob sie Konzentrations- und Verhaltensschwierigkeiten haben oder nicht – vielfältige Möglichkeiten, zu Lernen und ihr Wissen auf die Art und Weise zu zeigen, die ihnen am besten liegt.
Möglichkeiten, die Chancengleichheit zu verbessern, bestehen also darin, die Unterrichtsmethoden zu verändern, während die Leistungsanforderungen gleich bleiben. Inwieweit solche Änderungen allerdings tatsächlich wirksam sind, ist bislang kaum untersucht. Ein Beispiel: Obwohl Studierende mit ADHS-Diagnose angeben, von einer verlängerten Bearbeitungszeit bei Prüfungen zu profitieren, gibt es bislang kaum Belege dafür, dass diese Maßnahme tatsächlich zu besseren Ergebnissen führt. Eine weitere gängige Empfehlung lautet, Schüler mit ADHS in der Nähe ihrer Lehrkräfte sitzen zu lassen. Dies wirkt sich zwar positiv auf das Lernen aus, gilt jedoch im Allgemeinen für alle Schülerinnen und Schüler.
Welche Maßnahmen konkret für einzelne Schülerinnen und Schüler nützlich sind, hängt auch von individuellen Merkmalen der Kinder, wie etwa ihrem Alter, ihren Stärken und ihren jeweiligen Bedürfnissen ab. Anpassungen sollten stets auf das Individuum und das Lernumfeld zugeschnitten sein. Zugleich sollten Lehrkräfte idealerweise die Wirksamkeit der etablierten Maßnahmen genau überwachen, um festzustellen, ob sie das gewünschte Ergebnis erzielen.
Emotionale, organisatorische und instruktionale Unterstützung
Durch verschiedene Arten der Unterstützung können Lehrkräfte dazu beitragen, das Missverhältnis zwischen den Fähigkeiten des Einzelnen und dem Klassenumfeld vermieden oder verringert wird und sich Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität nicht verstärken. Sie können emotionale Unterstützung bieten, etwa indem sie mit den Kindern einfühlsam kommunizieren und ihre Sichtweisen berücksichtigen. Dadurch schaffen sie ein sicheres und geschütztes Umfeld, in dem die Kinder ihre sozialen Interaktionen ausprobieren und verbessern und ihre Emotionen besser regulieren können. Für Kinder mit Verhaltens- und Konzentrationsschwierigkeiten sind emotional unterstützende Interaktionen besonders wichtig.
Organisatorische Unterstützung ist für unaufmerksame, hyperaktive und impulsive Kinder ebenfalls hilfreich. Durch eine gute Klassenführung können Lehrkräfte das Verhalten ihrer Schülerinnen und Schüler unauffällig und vorausschauend steuern, so dass Aufmerksamkeit und lernförderliche Verhaltensweisen gefördert werden. Indem sie Erwartungen klar formulieren und als Vorbilder fungieren, verdeutlichen sie ihren Schülerinnen und Schülern, wie sie sich verhalten sollen und wie sie ihr eigenes Lernen verbessern können.
Durch instruktionale Unterstützung, beispielsweise passende Lernangebote mit angemessenem Schwierigkeitsgrad, können Lehrkräfte schließlich auch kognitive Fähigkeiten und die Lernbereitschaft ihrer Schülerinnen und Schüler fördern und Lernergebnisse verbessern. Im Rahmen sorgfältig konzipierter Lernaktivitäten erhalten Kinder ausreichend Zeit, auf einem Schwierigkeitsniveau zu üben, bevor sie zum nächsten übergehen. Geeignete Aufgaben fördern die Fähigkeit zum Lösen von Problemen und helfen dabei, diese Fähigkeiten in neuen Situationen einsetzen zu können. Darüber hinaus unterstützen gezielte Rückmeldungen der Lehrkräfte, auch Scaffolding genannt, Schüler dabei, ein Lern- und Leistungsniveau zu erlangen, das sie alleine sonst nicht erreichen würden. Ist die Beziehung zwischen Lehrkraft und Schülerinnen oder Schülern vertrauensvoll und frei von Konflikten, wird die Wirkung solch positiver Interaktionen noch verstärkt.
Individualisierte Unterstützung
Lehrkräfte, die Kinder mit Konzentrations- und Verhaltensschwierigkeiten unterrichten, wissen, wie verschieden diese Kinder sein können. Sie haben unterschiedliche Stärken und Bedürfnisse, reagieren unterschiedlich auf Fördermaßnahmen und unterscheiden sich vielleicht auch noch von Tag zu Tag. Was in einer bestimmten Unterrichtsstunde hilft, muss in einem anderen Kontext nicht ebenso helfen. Bisherige Forschungsergebnisse berücksichtigen solche individuellen Unterschiede allerdings kaum. In unseren zukünftigen Studien möchten wir daher herausfinden, welche Maßnahmen welche Schülerinnen und Schüler unter welchen Rahmenbedingungen am wirksamsten unterstützen. Wir hoffen, dass unsere Erkenntnisse Lehrkräfte dabei unterstützen werden, Kindern wie Sophie stets die bestmöglichen Lernbedingungen zu bieten.
Dieser Artikel ist in Kooperation mit BOLDBlog entstanden.