
Wenn begabte und hochbegabte Kinder unter ihren Möglichkeiten bleiben, spricht man in der Psychologie und Pädagogik von „Underachievement“. Untersuchungen gehen davon aus, dass etwa 15 Prozent der Hochbegabten davon betroffen sind, rund zwei Drittel davon sind Jungen (BMBF). Luisa Wottrich, Masterstudierende am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung gibt Einblicke in die aktuelle Forschung zu diesem komplexen und verblüffenden psychologischen Phänomen. Jennifer Raffler hat sie befragt.
Ein hoher Intelligenzquotient, aber keine guten Noten. Was verbirgt sich hinter dem sogenannten „Underachievement“?
Auch wenn es derzeit in der Wissenschaft keine allgemein anerkannte Definition gibt, gilt generell: Die Leistungserbringung von Underachievern entspricht nicht ihrem Leistungspotential. Somit kann es auch als „erwartungswidrige Minderleistung“ bezeichnet werden. Die meisten Forschungsarbeiten wie beispielsweise die der amerikanischen Wissenschaftlerinnen Reis und McCoach definieren Underachievement als Diskrepanz zwischen Fähigkeit und Leistung. Underachievement könnte folglich daran erkannt werden, dass ein Kind schlechte Schulnoten hat, in einem Intelligenztest jedoch überdurchschnittliche Werte erzielt.
Wie kann sich Underachievement bei Schulkindern äußern?
Underachiever zeigen große Unterschiede in ihren Verhaltensweisen, Interessen und Fähigkeiten. Der Versuch, übergreifende psychologische Konstrukte zu definieren, um Underachiever zu beschreiben, ist daher nach Reis und McCoach praktisch unmöglich. Lehrkräfte können dennoch auf Kinder achten, die prinzipiell zu guten oder sehr guten Noten fähig sein könnten, deren Zeugnisse jedoch mittlere oder schlechte Noten aufweisen. Auch können Underachiever, in Anlehnung an Clark und Rimm, daran erkannt werden, dass sie in der Schule nicht ihren Fähigkeiten entsprechend arbeiten. Diese Kinder bearbeiten zum Beispiel ihre Aufgaben nachlässig oder unvollständig, vergessen oder verlieren diese.
Die meisten besonders begabten und hochbegabten Schülerinnen und Schüler durchlaufen die Schule insgesamt recht erfolgreich. Bei ca. 15 Prozent lässt sich dennoch, wie Gronostaj und Kollegen festgestellt haben, ein Underachievement beobachten, das typischerweise mit Motivationsverlust, geringem Selbstkonzept (gemeint ist hiermit die allgemeine Wahrnehmung einer Person über sich selbst z. B. in Leistungssituationen) sowie Ablehnung der Schule einhergeht.
Weshalb sind oftmals besonders begabte und hochbegabte Kinder sogenannte „Underachiever“?
In einer heterogenen Schulklasse kann nur geringfügig auf die besonderen Bedürfnisse der Kinder mit einer überdurchschnittlichen Intelligenz (besondere Begabung: IQ ≥ 115) oder einer Hochbegabung (IQ ≥ 130) eingegangen werden. Der klassische Unterricht, in dem sich die Lehrkraft in Tempo und Niveau vorrangig an Kindern mit durchschnittlicher Leistung orientiert, ist in Anlehnung an Vock und Gronostaj, oftmals nicht ausreichend fördernd und anregend. Tatsächlich erfahren hochbegabte Kinder daher häufig eine Frustration hinsichtlich ihrer Lernbedürfnisse sowie damit einhergehende Motivationseinbrüche.
Was sind mögliche Ursachen von Underachievement?
In Anlehnung an die Erwartungs-Wert-Theorie von Eccles und Wigfield, ein psychologisches Erklärungsmodell zur Vorhersage von Leistungsverhalten, tragen familienbezogene, schulbezogene und individuelle Faktoren gemeinsam zu einer Entstehung von Underachievement bei. Unter den individuellen Faktoren sind eine fehlende Motivation sowie ein mangelndes Selbstkonzept zu nennen. Als schulbezogene Faktoren diskutieren Reis und McCoach zum Beispiel einen unangemessenen und unmotivierenden Unterricht: Wird etwa ein Thema behandelt, das sich ein Kind aus Interesse bereits eigenständig erschlossen und mit Familie und Freundeskreis besprochen hat, so wird dieses keine große Motivation aufbringen, einen langweiligen Text zur Grundlagendefinition desselben Themas in der Schule zu lesen. Das Kind wird im darauffolgenden Test möglicherweise andere Antworten geben als diejenigen, die im Schulunterricht behandelt wurden, da es nicht aufgepasst hat.
Was müsste ein Schulsystem bieten, um Underachiever gezielt zu fördern?
Die individuelle Förderung von Underachievern kann innerhalb der Schule in Form von differenziertem und adaptivem Unterricht implementiert werden. Das heißt, dass die einzelnen Kinder in einer Schulklasse unterschiedliche, an ihren Leistungsstand und ihre Bedürfnisse angepasste Lernangebote erhalten. Aber auch in außerschulischen Förderprogrammen ist es möglich, auf die speziellen Bedürfnisse von Underachievern einzugehen, indem beispielsweise Kurse zur Förderung von Motivation und Selbstkonzept angeboten werden und dort auf die besonderen Lernbedürfnisse, wie das erhöhte Lerntempo, der besonders begabten und hochbegabten Kinder eingegangen wird. Zudem sollte die Förderung, wie auch Preckel und Vock betonen, regelmäßig stattfinden.
Gibt es konkrete Beispiele aus der Praxis?
Eines der Förderinstrumente, das für besonders begabte und hochbegabte Kinder eingesetzt wird, basiert auf den Prinzipien der Akzeleration, das heißt ein beschleunigtes Lernen und schnelleres Durchlaufen der Schule. Eine weitere Möglichkeit der Begabtenförderung stellen laut Vock und Gronostaj auch Angebote des Enrichment dar, das heißt Anreicherung des Lehrplans innerhalb und außerhalb des Unterrichts. Diese Angebote können im Regelunterricht, am Nachmittag, an den Wochenenden oder in den Ferien stattfinden.
Begabtenförderung im Sinne des Enrichment wird beispielsweise von den Hector Kinderakademien angeboten. Sie bieten Kindern mit besonderen Begabungen ein angemessenes Lernumfeld, in dem die Interessen und Talente der Kinder in einem speziell für sie entwickelten Programm gefördert werden.
Zum Weiterlesen:
- Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (2017): Begabte Kinder finden und fördern.
- Clark, B. (2001). Growing Up Gifted: Developing the Potential of Children at Home and at School (6th ed.) Upper Saddle River, N.J: Pearson.
- Gronostaj, A., Kretschmann, J., Westphal, A. & Vock, M. (2015). Motivationale Kompetenzen und soziale Integration von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in inklusiven Lernsettings. In N. Spörer, A. Schründer-Lenzen, M. Vock & K. Maaz (Hrsg.), Inklusives Lernen und Lehren im Land Brandenburg. Abschlussbericht zur Begleitforschung im Land Brandenburg(S. 109–136). Ludwigsfelde-Struveshof: Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM).