In der Tübinger Arbeitsgruppe Didaktik der Physik untersucht Benedikt Gottschlich am Beispiel einfacher Stromkreise, wie kontextbasierter Unterricht den Lernerfolg beeinflusst. Eine neue Studie soll zeigen, ob das Lernen entlang von anschaulichen Kontexten im Physikunterricht das Interesse und das Fachwissen von Schülerinnen und Schülern verbessern kann.
Ein Leben ohne Strom ist für uns heute nahezu unvorstellbar. Doch trotz seiner Relevanz im Alltag und einer zunehmend naturwissenschaftlich-technisch geprägten Umwelt haben die meisten Menschen lediglich eine vage Vorstellung von elektrischen Größen wie Spannung, Widerstand oder Stromstärke. Studienergebnisse zeigen insbesondere, dass es Schülerinnen und Schülern häufig nicht gelingt, in der Sekundarstufe I ein angemessenes Verständnis von einfachen Stromkreisen zu entwickeln.
Benedikt Gottschlich von der Arbeitsgruppe Didaktik der Physik an der Universität Tübingen will das ändern. Im Rahmen des Forschungsprojekts EKo (Elektrizitätslehre mit Kontexten) erforscht er, ob und wie ein neues Unterrichtskonzept das Interesse und das fachliche Verständnis im Unterricht steigern kann. „Unser Ziel ist es, den Einfluss eines kontextbasierten Physikunterrichts zu untersuchen“, so Gottschlich. Kontextbasiert heißt in diesem Fall, physikalische Zusammenhänge entlang anschaulicher Kontexte aus dem Alltag zu vermitteln. Mit den Erkenntnissen des Forschungsprojekts hofft Gottschlich, einen Beitrag zur nachhaltigen Verbesserung des Physikunterrichts zu leisten.
Vorteile des kontextbasierten Unterrichts
Zahlreiche Studien belegen, dass ein kontextbasierter Unterricht das Interesse der Lernenden für physikalische Themen wecken kann. Inwieweit die Einbettung physikalischer Inhalte in unterschiedliche Kontexte jedoch auch das Fachwissen verbessert, ist bisher nicht eindeutig geklärt. „Es wird heute schon viel mit Anwendungsbeispielen gearbeitet, das entspricht auch den Richtlinien der Kultusministerkonferenz“, erklärt Gottschlich. „Die Frage, die wir uns dabei stellen ist aber: Lernen die Schülerinnen und Schüler in einem Unterricht, bei dem der Kontext den roten Faden für das fachliche Lernen vorgibt, auch mehr als im traditionellen Unterricht?“ Über die Interessenssteigerung hinaus, interessiert sich das Forschungsprojekt daher für den Einfluss der Kontextualisierung auf fachlicher Ebene. „Dazu gibt es bisher noch keine klare Befundlage in der fachdidaktischen Forschung“, so Gottschlich.
Um den Einfluss von Kontexten im Physikunterricht zu untersuchen, knüpft das Projekt an Erkenntnisse aus der Forschungsstudie EPo (Elektrizitätslehre mit Potential) an. Hierbei wurde den Lernenden in einem neuen Unterrichtskonzept ein intuitives Verständnis für die elektrische Spannung vermittelt, indem das elektrische Potenzial in Analogie zum Luftdruck einführt wurde. Verglichen mit dem traditionellen Physikunterricht, entwickelten die 790 teilnehmenden Schülerinnen und Schülern der Studie ein deutlich besseres konzeptionelles Verständnis elektrischer Stromkreise, und ihr Lernzuwachs war zudem höher. Allerdings zeigte das EPo-Modell auch, dass der Lernzuwachs bei Mädchen signifikant geringer ausfiel als bei Jungen, weshalb das EKo-Projekt insbesondere an dieser Stelle ansetzt.
Warum es Lernenden schwer fällt, Stromkreise zu verstehen
Die Elektrizitätslehre ist eines der zentralen physikalischen Themen. Und mehr als jeder andere Gegenstand der Physik ist ein Stromkreis nicht so leicht zu durchschauen. Während sich im Bereich der Mechanik zur Illustration zwei Spielzeugautos gegeneinander fahren lassen, verstecken sich die Konzepte in der Elektrizitätslehre hinter einer „abstrakten Wand“: „Wenn im Unterricht Stromkreise aufgebaut werden, sehen die Schülerinnen und Schüler vielleicht, dass dabei ein Lämpchen leuchtet, aber die Bewegung der Elektronen sehen sie nicht“, so Gottschlich. Das mache es für die Lernenden schwierig, eine Vorstellung der zugrundeliegenden Vorgänge zu entwickeln. Und genau hierin wird einer der wesentlichen Gründe dafür gesehen, dass Schülerinnen und Schüler im Bereich der Elektrizitätslehre die Lernziele oftmals nicht erreichen.
Von Autoscooter bis Zitteraal: Kontextbasiertes Lernen im Physikunterricht
Um das Verständnis für physikalische Zusammenhänge zu verbessern, entwickelt die Arbeitsgruppe Didaktik der Physik an der Universität Tübingen in Zusammenarbeit mit den Universitäten Darmstadt, Dresden, Frankfurt, Graz und Wien daher Unterrichtsmaterialien, die das Ziel verfolgen, das Thema „Einfache Stromkreise“ in Kontexte einzubetten, die gleichzeitig interessant und lernwirksam sind. Dabei werden primär solche Kontexte ausgewählt, die in Vorstudien von Schülerinnen und Schülern für interessant sowie von Lehrkräften für geeignet betrachtet wurden. Auch die Sensibilität für Unterschiede in der Wahrnehmung spielt hierbei eine große Rolle: Studien zeigen, dass Mädchen im Allgemeinen eher an medizinisch-biologischen Kontexten interessiert sind, während sich Jungen eher für technische Kontexte begeistern. Ein Mix aus verschiedenen Kontexten soll daher eine Bandbreite an unterschiedlichen Interessen ansprechen.
Im Unterricht sollen die Kontexte dabei weniger als Anwendungsbeispiele dienen, als vielmehr selbst den roten Faden bilden, anhand dessen Schülerinnen und Schüler fachliche Inhalte erarbeiten.
So wird beispielsweise anhand eines Autoscooters die Grundkonzeption eines einfachen Stromkreises erklärt: Nur durch die zeitgleiche Verbindung des Elektroautos mit einem Schleifkontakt zum Boden und einer Antenne zum Netz entsteht ein geschlossener Stromkreis, der den Autoscooter fahren lässt. Mit dem Beispiel des Zitteraals lässt sich wiederum das Konzept der elektrischen Spannung veranschaulichen. Ein Zitteraal erzeugt Spannungen von bis zu 600 Volt und ist damit auch für Menschen gefährlich.
Lehrkräfte für Vergleichsstudie gesucht
Wie sich die Kontexte vom Autoscooter bis hin zum Zitteraal auf das fachliche Verständnis der Schülerinnen und Schüler auswirken, soll mit Beginn des neuen Schuljahres an Gymnasien in ganz Baden-Württemberg untersucht werden. In zwei aufeinanderfolgenden Schuljahren wird dafür der Elektrizitätsunterricht in der 8. Jahrgangsstufe verglichen. Im ersten Jahr sollen Lehrkräfte die Elektrizitätslehre in gewohnter Art und Weise unterrichten (traditioneller Unterricht). Im zweiten Durchgang erfolgt der kontextbasierte Unterricht, für den die Lehrkräfte mit kostenlosen Unterrichtsmaterialien des Forschungsprojekts ausgestattet werden.
Derzeit sucht die Studie nach Lehrkräften, die in der Sekundarstufe I am Gymnasium (G8 oder G9) die Einheit „Grundgrößen der Elektrizitätslehre“ unterrichten und bereit sind, an den zwei Durchgängen der Studie teilzunehmen. Interessierte Lehrkräfte können sich auf der Seite der Arbeitsgruppe Didaktik der Physik an der Universität Tübingen weiter informieren oder direkt für die Studie anmelden.
„Sollte die Studie zeigen, dass ein kontextbasierter Unterricht nicht nur das Interesse, sondern auch das fachliche Verständnis der Schülerinnen und Schüler nachhaltig steigern kann, wäre das eine wertvolle Erkenntnis, die den naturwissenschaftlichen Unterricht in der Schulpraxis verbessern könnte“, so Gottschlich.