Studien zu Hochbegabung zeigen, dass sich Hochbegabte und durchschnittlich Begabte in sozialer und emotionaler Hinsicht sehr ähnlich sind. Dennoch hält sich in vielen Köpfen das Klischee, Menschen mit einem hohen IQ seien sozial schwierig und emotional labil. Eine neue Studie geht weitverbreiteten Stereotypen auf den Grund.
Was Hochbegabung ist, lässt sich dabei zunächst gar nicht so leicht beantworten. Sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis existieren unterschiedliche Auffassungen für den Terminus der besonderen Begabung oder der Hochbegabung. Intellektuelle Hochbegabung wird daher durch eine Vielzahl verschiedener Konzeptionen und Definitionen erfasst. Dennoch haben die meisten Menschen eine klare Vorstellung davon, wie sich Hochbegabung äußert: Überflieger, Nerd, Einzelgängerin, Störenfried sind nur einige der Vorurteile, denen sich hochbegabte Menschen häufig gegenübersehen. Einen der Gründe dafür sieht Nadja Karossa, Absolventin des Masterstudiengangs Empirischen Bildungsforschung und Pädagogischen Psychologie an der Universität Tübingen, in der Sozialisationsfunktion von Medien. In Filmen, Literatur und Serien dominieren häufig zwei weit verbreitete Stereotype die Darstellung von Hochbegabten, die sich durch alle Genres ziehen: das „Wunderkind“ oder das „sozial-inkompatible Genie“. Dazu zählen zum Beispiel Meisterdetektiv Sherlock Holmes, der als psychisch labil gilt, der nerdige Sheldon Cooper aus der Fernsehserie „The Big Bang Theory“ oder die brilliante Matilda aus dem gleichnamigen Kinderfilm von 1996. Das Bild, das diese Figuren über Hochbegabung vermitteln, ist jedoch weniger von wissenschaftlichen Erkenntnissen geprägt als vom Hang zu einer packenden Storyline.
„Das negative Bild von Hochbegabten dominiert“: Die Disharmonie-Hypothese
Welchen Stereotypen die Deutschen über Hochbegabung nachhängen und wie verbreitet diese sind, hat die Psychologin Tanja Baudson an der Universität Duisburg-Essen in einer empirischen Studie untersucht. Ihre Ergebnisse lassen sich den oben bereits skizzierten Urteilstypen „Wunderkind“ oder „sozial-inkompatibles Genie“ zuordnen. Beiden Urteilen ist dabei zunächst gemein, dass sie Hochbegabung mit einer hohen Intelligenz und Leistungsfähigkeit verbinden. Nur der „disharmonische“ Urteilstyp schreibt Hochbegabten außerdem zu, dass sie anfälliger für psychische Probleme und Defizite im sozio-emotionalen Bereich sind. Von über 1000 Befragten in Baudsons Studie folgen zwei Drittel dem disharmonischen Urteilstyp. Die Mehrheit der Befragten begegnet besonders begabten und hochbegabten Menschen demnach mit einem negativen Vorurteil.
Hochbegabte als „Wunderkind“: Die Harmonie-Hypothese
Ein weitaus positiveres Bild von Hochbegabten haben dagegen Menschen, die dem „harmonischen“ Urteilstyp folgen. Sie gehen vom genauen Gegenteil der Disharmonie-Hypothese aus: Hochbegabte werden als psychisch stabiler, glücklicher, erfolgreicher und gesünder als durchschnittlich Begabte wahrgenommen. „Diese Annahmen konnten bereits in einigen Studien belegt werden“, erklärt Karossa. Genau dieser Typ findet sich in Filmen, Romanen und Serien jedoch selten.
Was ist dran an den Stereotypen zu Hochbegabung?
In welchem Zusammenhang die Persönlichkeit und die Intelligenz stehen, hat Nadja Karossa anhand einer Stichprobe mit Grundschulkindern (siehe Infobox) genauer untersucht. In ihrer Masterarbeit analysierte sie dafür Unterschiede in der Persönlichkeit von besonders begabten Kindern im Vergleich zu allen anderen Kindern. Das dabei verwendete sechsdimensionale Persönlichkeitsmodell erlaubte es ihr, die Persönlichkeit der teilnehmenden Kinder genau zu beschreiben. Dieses sogenannte Hexaco-Modell setzt sich aus den Faktoren Ehrlichkeit-Bescheidenheit (H), Emotionalität (E), Extraversion (X), Verträglichkeit (A), Gewissenhaftigkeit (C) und Offenheit für Erfahrung (O) zusammen, wobei sich jeder Faktor aus vier Facetten zusammensetzt.
Woher stammen die Daten?
Die verwendeten Daten aus der Masterarbeit stammen aus den Hector Kinderakademien, einem Förderprogramm für besonders begabte und hochbegabte Grundschulkinder aus Baden-Württemberg. Die Stichprobe, mit der die Berechnungen durchgeführt wurden, setzte sich aus 2.751 Schülerinnen und Schülern aus 181 dritten Klassen an 109 Schulen in Baden-Württemberg zusammen. Für die Berechnung von Gruppenunterschieden wurden die Drittklässler anhand ihres Intelligenzquotienten (IQ) in zwei Gruppen aufgeteilt. Entsprechend des Cut-Off-Werts (dem Trennwert, der definiert, ab welchem IQ die Probanden einer der Gruppen zugeteilt werden) wurden Schülerinnen und Schüler mit einem IQ > 110 als besonders begabt bzw. hochbegabt und Schülerinnen und Schüler unter diesem Wert (IQ ≤110) als durchschnittlich begabt eingestuft. Insgesamt wurden n = 307 als besonders begabt und n = 1.207 als durchschnittlich begabt eingestuft. Für die Analyse der Persönlichkeitseigenschaften der Kinder wurden die Elterneinschätzungen verwendet.
Die Erkenntnisse, die Nadja Karossa aus ihrer Studie gewonnen hat, geben Hinweise darauf, dass zwischen der Persönlichkeit von durchschnittlich und besonders begabten Kindern leichte Unterschiede bestehen. Demnach weisen hochbegabte Kinder durchschnittlich höhere Ausprägungen bei den Facetten „Fleiß“, „Perfektionismus“ und „Besonnenheit“ aus dem Faktor Gewissenhaftigkeit und bei den Facetten „Sinn für Ästhetik“ und „Wissbegierde“ aus dem Faktor Offenheit für Erfahrung auf. Eine weitere Auffälligkeit, die Karossa in ihrer Arbeit feststellte, steht in Einklang mit der Disharmonie-Hypothese: Demnach sind besonders begabte Kinder durchschnittlich weniger „gesellig“ als durchschnittlich begabte. Mögliche Erklärungen hierfür finden sich bis dato nur in Studien aus den 1970er und 1980er-Jahren. Genannt werden dabei unter anderem eine mögliche erhöhte soziale Sensibilität und der Einfluss der häuslichen Umgebung.
Die weitverbreiteten Stereotype scheinen diese leichten Unterschiede in der Persönlichkeit von durchschnittlich und besonders begabten Personen demnach zu überhöhen und zuzuspitzen. Im Schnitt sind Hochbegabte jedoch „auch nicht verrückter als der Rest der Menschheit“, bringt es Psychologin Baudson in einer schriftlichen Mitteilung zu ihren Forschungsergebnissen auf den Punkt und fordert Wissenschaft und Praxis dazu auf, das Bild besonders Begabter bzw. Hochbegabter in der (medialen) Öffentlichkeit zu korrigieren. Karossas Forschungsergebnisse sind dabei ein Schritt in die – wortwörtlich – richtige Richtung.
Zum Weiterlesen:
- Ablard, K. E. (1997). Self-perceptions and needs as a function of type of academic ability and gender. Roeper Review, 20(2), 110. Retrieved from http://10.0.4.56/02783199709553870
- Baudson, T. G. (2016). The mad genius stereotype: Still alive and well. Frontiers in Psychology, 7, 368. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2016.00368