In der COVID-19-Pandemie investierten die meisten Schulen massiv in Hardware und Software. Unbekannte Tools und Apps wurden von Lehrkräften ohne große Vorbereitung eingesetzt und haben zur Steigerung der digitalen Kompetenzen beigetragen. Für viele Lehrpersonen sind Berührungsängste verschwunden. Mit Unterstützung der Schulen haben viele Schülerinnen und Schüler jetzt die nötige Hardware für hybriden Unterricht zuhause.
Der Alltag ist in die Schulen zurückgekehrt, digitale Lehre nicht mehr zwingend nötig, aber sie kann und sollte etabliert werden, zum Beispiel mit dem Konzept des Flipped Classroom. Hier bietet sich eine Chance, die neu entstandenen Bedingungen für schulische Innovation weiter zu nutzen.
Als Pionier entwickelte Christian Czaputa 2017 gemeinsam mit einem Kollegen sein Konzept zum „geflippten“ Mathematikunterricht für eine 6. Klasse an einer bayerischen Schule. Doch was genau bedeutet „flipped classroom“ eigentlich?
Für das Flipped-Classroom-Konzept sind mehrere Schritte notwendig:
Es beginnt im ersten Schritt damit, dass die Lehrkraft Materialien zur Verfügung stellt, die die Lernenden selbstständig durcharbeiten müssen. Dies geschieht zum Beispiel durch die intensive Beschäftigung mit Lernvideos, das Anhören von Podcasts oder das Erarbeiten von Lehrtexten, die digital bereitgestellt werden.
Im zweiten Schritt ermittelt die Lehrkraft anhand von Testformaten den Wissensstand der Schülerinnen und Schüler. Dies ist deshalb wichtig, damit die Lehrkraft im dritten Schritt im Präsenzunterricht direkt an diesen Wissensstand anknüpfen kann.
Im Klassenzimmer wird der Inhalt dann geübt, angewendet, diskutiert oder kreativ verarbeitet. Diese Phase dient der Vertiefung des Gelernten.
Das sonst übliche Vorgehen „Einführung neuer Inhalte im Klassenzimmer und Vertiefung zuhause“ wird auf diese Weise umgedreht (to flip the classroom).
Die Kombination aus Online-Selbstlernphasen und Präsenzphasen kann beliebig fortgesetzt werden. Entscheidend ist der Charakter von Vor- und Nachbereitung des Unterrichts in den Selbstlernphasen und der Übungscharakter von Unterricht in den Präsenzphasen. Assessment und adaptiver Unterricht ermöglichen eine Individualisierung von Unterricht und damit eine vertiefte Abstimmung auf die Zielgruppe.
Flipped Classroom ist eine Form des Blended Learning. Blended Learning meint alle Lehr- und Lernformen, die digitale Medien zur Bereicherung der Präsenzlehre einbeziehen. Beide Konzepte sind verwandt mit der Idee des entdeckenden und forschenden Lernens, das die Betonung des eigenständigen Erwerbs von abstraktem Wissen im Gegensatz zur passiv erlebten Unterrichtsstunde hervorhebt.
Wirkt das Konzept Flipped Classroom?
Da das Konzept Flipped Classroom zunächst in Deutschland vor allem im universitären Kontext erprobt wurde, gab es bis 2018 nur wenige deutsche Studien, die die Effekte von Flipped Classroom in Schulen untersuchten.
Eine Studie von 2019 zeigte dann, dass sich die Leistungen der Schülerinnen und Schüler und das Maß an Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden verbessert hatten. Flipped Classroom scheint außerdem mehr Möglichkeiten zum kollaborativen Lernen zu bieten. Dabei wird das individuelle Interesse von Schülerinnen und Schüler gefördert und sie erleben im Lernprozess die drei psychologischen Grundbedürfnisse Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit.
Auch die Umsetzung des Flipped Classroom wurde untersucht und es zeigte sich, dass die Lehrenden sich zu wenig mit dem Konzept auseinandersetzten und sich zu wenig an vorhandenen Rahmenmodellen orientierten. Besonders deutlich wurde dies, wenn die Übungsphase zuhause und die Präsenzphase nicht sinnvoll verknüpft wurden.
Neuere Metastudien können sich auf eine breitere Studienbasis stützen und belegen die Effektivität des Konzepts Flipped Classroom in der Sekundarstufe im Vergleich zum traditionellen Unterricht. Vor allem in den MINT-Fächern konnten eine Zeitersparnis und hohe Lerneffekte festgestellt werden. Kürzere Unterrichtseinheiten mit Flipped Classroom-Interventionen von bis zu vier Wochen stellten sich als effektiver heraus als längere Einheiten.
Die Forschenden empfehlen einen Methodenwechsel von traditionellem Unterricht und Flipped Classroom, um einen zu starken Gewöhnungseffekt zu vermeiden. Ein eingeführtes Lernmanagment-System, wie zum Beispiel Moodle, könne den Schülerinnen und Schüler Orientierung bieten, sei aber nicht zwingend erforderlich. Wenn formative Assessements wie Quiz oder Tests eingesetzt würden, sollte dies mit unmittelbarem Feedback zu den korrekten Antworten verbunden sein. Insgesamt sei die Bedeutung solcher Tests aber niedriger als gedacht.
Auf welche Weise kann Flipped Classroom an Schulen erfolgreich eingeführt werden?
Bei der Einführung des Konzepts Flipped Classroom sind professionelle Lehrkräfte-Lerngemeinschaften hilfreich. Diese unterstützen sich mit ihren unterschiedlichen Kompetenzen gegenseitig, entwickeln gemeinsam Materialien und tragen die Resultate ins Kollegium.
Der Unterricht sollte außerdem von den Lernenden aus gedacht werden. Ihre Heterogenität zu beachten und hier die Entwicklung von Selbstregulation und Selbstlernkompetenzen zu unterstützen, ist ein wesentliches Ziel der Umsetzung von Flipped Classroom.
Alle Materialien und Medien sollten als attraktive Hilfsmittel gestaltet sein – in Video-, Audio- oder Textform. Bei heterogenen Gruppen empfehlen sich Materialien auf verschiedenen Lernniveaus und ein kooperatives Setting, in dem Lernende sich gegenseitig als Peer-Mentoren zur Seite stehen.
Die Kompetenzen der Lehrkräfte müssen gestärkt werden, sowohl digitale Kompetenzen als auch kommunikative und diagnostische Kompetenzen im Kontakt mit den Schülerinnen und Schüler. Nach den Selbstlernphasen müssen jeweils diagnostische Werkzeuge genutzt werden (z.B. Tests, Quiz oder Highscore-Formate).
Eine wichtige Grundlage ist nicht zuletzt eine funktionsfähige IT-Infrastruktur und ein funktionsfähiges Lernmanagement-System (z.B. Moodle).
Die Vorteile des Flipped Classrooms
Im besten Fall kann das Konzept Flipped Classroom, wenn es planvoll an einer Schule eingeführt und begleitet wird, das Wissen, Interesse, Selbstvertrauen und die Selbstständigkeit der Schülerinnen und Schüler steigern.
Die häusliche Vorbereitung erlaubt ein individuelles Lerntempo. Lernende vernetzen sich und helfen einander. Ein Nebeneffekt kann sein, dass an der Schule weniger Räume benötigt werden, wenn Homeschooling-Tage als Flipped-Classroom-Tage eingesetzt werden.
In den Präsenzphasen können die Lernenden ihr Wissen anwenden, überprüfen und diskutieren und die Lehrperson nimmt auf diese Weise eine neue Rolle ein. Wichtig dabei ist aber, dass die Lehrkräfte vor allem bei Einführung des neuen Konzeptes nicht alleine gelassen werden.
Die neueren Forschungsergebnisse zeigen, dass das Konzept Flipped Classroom wirkt, vor allem in den MINT-Fächern, zeitlich abgegrenzt und im Wechsel mit traditionellem Unterricht. Die in der Pandemieneu erworbenen Kenntnisse von Schülerinnen und Schüler und Lehrkräften zu digitalem Lernen werden auf diese Weise sinnvoll eingesetzt und erweitert.
Entscheidet sich eine Schulleitung dafür, Flipped Classroom an der Schule zu etablieren, kann die digitale Transformation der Schule insgesamt vorangetrieben werden.
"Schulmanagement und Leadership" an der Universität Tübingen studieren
Weitere Informationen zum Studiengang "Schulmanagement und Leadership" finden Sie auf unserer Homepage.