Interesse wird dann geweckt, wenn Vorwissen vorhanden ist
In den letzten Jahren haben sich Michiko Sakaki, Kou Murayama und ihr Team umfassend mit dem Geheimnis der Freude am Lernen beschäftigt. In verschiedenen Studien untersuchten sie, wie und warum sich Menschen dafür interessieren, sich neues Wissen anzueignen. Sie fanden heraus, dass das Interesse an neuem Wissen vor allem dann geweckt wird, wenn Menschen bereits über ein gewisses Maß an Wissen verfügen. In einer Studie zum Beispiel bekamen die Teilnehmenden die Aufgabe, online nach Informationen zu suchen. Dabei konnten sie Informationen über weniger bekannte Länder wie Bahrain oder Lesotho frei einsehen. Nach und nach bekamen die Teilnehmer eine Reihe von Informationen über das Land (z. B. geografische Details, die Rolle der Frau, Geschichte, Sprache) und gaben ihr Interesse für das Land an. Es ging also um den Erwerb von trivialem Wissen, das eher nicht dazu beitragen wird, dass die Teilnehmer in Zukunft ein höheres Gehalt verdienen – Dinge wie diese zu lernen, bringt langfristig wenig Nutzen. Dennoch haben sich die Teilnehmer gerne auf die Aufgabe eingelassen. Und sie interessierten sich immer mehr für die Länder, je mehr Wissen sie über das jeweilige Land erwarben (lernten sie jedoch zu viel, begann das Interesse zu sinken). Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Aufbau von Wissen die Grundlage für Interesse – intrinsische Freude am Lernen – darstellt.
Wissenslücken bei sich selbst entdecken
Aber warum trägt Wissen dazu bei, dass wir uns für neue Dinge interessieren? In ihrer jüngsten Arbeit konnten Kou Murayama und sein Team anhand einer Literaturrecherche und mathematischer Simulationen zeigen, dass ein größeres Wissen das Interesse weckt, weil Menschen mit zunehmendem Wissen eher eine Wissenslücke bei sich finden. Mit anderen Worten: Je mehr man weiß, desto mehr wird einem ironischerweise bewusst, dass man eigentlich noch sehr wenig weiß. Das Gefühl, eine Wissenslücke zu haben, führt dazu, dass man sich mehr dafür interessiert Neues zu lernen. Somit stehen Lernen (Erwerb neuen Wissens) und Interesse (Lernmotivation) in einer Art wechselseitiger Beziehung, die sich gegenseitig verstärkt (ein sogenannter selbstverstärkender Effekt). Je mehr man lernt, desto mehr interessiert man sich für das Thema, und je mehr man sich dafür interessiert, desto leichter wird das Lernen. Man denke nur an einen Wissenschaftler, der sich 20 Jahre lang mit einem Thema beschäftigt. Warum kann diese Person ihre Begeisterung über einen so langen Zeitraum aufrechterhalten? Das liegt daran, dass die Person einen selbstverstärkenden Kreislauf von Lernen und Interesse aufbaut.
Neugier in langfristiges Interesse umwandeln
Für den Unterricht bedeutet das Folgendes: Um Schülerinnen und Schüler zu motivieren, sollten wir zunächst ein Umfeld schaffen, in dem sie ausreichend lernen können. So selbstverständlich es klingt, ist es nicht. Nehmen wir an, zur Vorbereitung auf eine Unterrichtsstunde gehört das vorherige Lesen eines Lehrbuchs. Oft wird behauptet, dass genau diese Vorbereitung das Interesse der Schülerinnen und Schüler zunichtemacht, weil diese dann nicht mehr überrascht werden können oder nicht mehr neugierig auf den neuen Stoff sind, den sie im Unterricht lernen werden. Aber ist das wirklich so? Unsere Studienergebnissen lassen andere Schlüsse zu: Ermutigt man Schülerinnen und Schüler dazu, sich auf den Unterricht vorzubereiten, haben sie mehr Gelegenheit, ihre Neugierde zu wecken. Denn die Vorbereitung schafft die Grundlage dafür, dass sich die Schülerinnen und Schüler ihrer Wissenslücken überhaupt bewusst werden.
Diesen Arbeitsbereich weiterzuentwickeln und Wege zu finden, die Neugier und das Interesse der Schülerinnen und Schüler am Unterricht zu fördern, ist eines der Hauptthemen der Humboldt-Professur von Kou Murayama am Hector-Institut. Dabei interessiert Murayama besonders die langfristige Entwicklung des Interesses. Denn manchmal sind Schülerinnen und Schüler ja neugierig auf das Lernen, aber dies dann oft nur punktuell und nicht über einen längeren Zeitraum. Die zentrale Frage ist: Wie wird aus dieser zeitlich begrenzten Neugierde ein langfristiges Interesse? In der Psychologie und den Neurowissenschaften gibt es viele Studien zur Neugier, aber nur wenige Untersuchungen konnten zeigen, wie sich die Ergebnisse in ein langfristiges Interesse für die Schule umsetzen lassen, eine der größten Herausforderungen in der Bildung. Dieser komplexen Thematik wollen Kou Murayama und sein Team am Hector-Institut in den nächsten Jahren auf den Grund gehen.
Zum Weiterlesen:
Fastrich, G. M., & Murayama, K. (2020). Development of interest and role of choice during sequential knowledge acquisition. AERA Open, 6(2), 1-16. https://doi.org/10.1177/2332858420929981
Murayama, K., FitzGibbon, L., & Sakaki, M. (2019). Process account of curiosity and interest: A reward learning model of knowledge acquisition. Educational Psychology Review, 31(4), 875-895. https://doi.org/10.1007/s10648-019-09499-9
Murayama, K. (2022). A reward-learning framework of knowledge acquisition: An integrated account of curiosity, interest, and intrinsic-extrinsic rewards. Psychological Review. Advance online publication. https://doi.org/10.1037/rev0000349
Sakaki, M., Yagi, A., & Murayama, K (2018). Curiosity in old age: A possible key to achieving adaptive aging. Neuroscience and Biobehavioral Reviews, 88, 106-116. https://doi.org/10.1016/j.neubiorev.2018.03.007