Hypothesen aufstellen, Daten sammeln und Befunde kritisch diskutieren - was im realen Forschungsprozess Alltag ist, findet im Schulalltag selten statt. Eine Lernmethode, welche diese Prozesse in der Schule fördern kann, ist das Inquiry Based Learning oder auch forschendes Lernen genannt. Das digitale Medium PhET (Physics Education Technology), welches vom Nobelpreisträger Carl E. Wiemann entwickelt wurde, stellt eine Vielzahl an interaktiven Simulationen zur Verfügung und soll Schüler*innen beim forschenden Lernen unterstützen. Ein solcher mediengestützter Ansatz klingt in Zeiten der Digitalisierung vielversprechend, doch welche konkreten Achtungspunkte bei der Nutzung von PhET neben dessen Chancen und Herausforderungen zu berücksichtigen sind, soll in diesem Blogbeitrag diskutiert werden.
Forschendes Lernen und die Levels of Inquiry
Wie die Bezeichnung bereits nahelegt, stellt die Lernform des forschenden Lernens das autonome Handeln des Kindes in den Vordergrund, im Gegensatz zu einem stumpfen Auswendiglernen und Rezipieren von Fakten. Im Fokus steht ein exploratives Vorgehen bei der Gewinnung von Wissen durch die Entfaltung eigener Ideen erfolgen soll. Die Lehrkraft dient hierbei als Unterstützung und kann angelehnt an die Level des forschenden Lernens Hilfestellungen bieten. Die Levels unterscheiden sich dabei hinsichtlich des Informationsgehalts der Lehrkraft bezüglich der zu bearbeitenden Fragestellung (siehe Abbildung 1). Als Basis dient das Level „Confirmation”, welches sowohl die zu bearbeitende Fragestellung (1) als auch die passende Methodik zum Beantworten der Fragestellung (2) und die Antwort (3) bereitstellt. Die folgenden drei Level bieten jeweils einen Informationsgehalt weniger, sodass das Level „Structured Inquiry” Informationen zur bearbeitenden Fragestellung (1) und der passenden Methode (2) bietet, jedoch nicht mehr die Antwort (3) offenlegt. Während das Level „Guided Inquiry” nur noch die Forschungsfrage (1) bereitstellt, ist das Level „Open Inquiry” als Gegenpol zum Level „Confirmation” zu betrachten und bietet den Lernenden keinerlei Informationen. Schüler*innen agieren als ein eigenes Forschungsteam, welches den Forschungskreislauf von der Hypothesenbildung (1) über die Methodik (2) bis zur Beantwortung der Forschungsfrage (3) selbst durchläuft.
Die digitale Lernplattform PhET kann die Lehrenden bei der Gestaltung ihres Unterrichts auf das von ihnen festgelegte Level unterstützen. Denn „Interagieren, entdecken, lernen!“ ist auch das Motto der Lernplattform PhET - ein Tool, welches die angesprochene schülerzentrierte Lernform des forschenden Lernens zugrunde legt. Die Lernplattform bietet viele kostenlose, interaktive und spiel-ähnliche Simulationen aus den Naturwissenschaften an. Durch Festlegen und Verändern der Lernumgebung sollen Schüler*innen dazu angeregt werden, eine Verbindung zwischen realen Phänomenen und der dahinterliegenden Wissenschaft herzustellen im Sinne des Forschungskreislaufs.
PhET-Simulationen sind altersunabhängig und vielfältig im Unterricht einsetzbar, zum Beispiel als Einstieg in Themen auf dem Level „Confirmation”, zur Vertiefung von naturwissenschaftlichen Phänomenen gemäß „Structured Inquiry” oder als Hausaufgabe nach dem Prinzip der „Guided Inquiry”. Der Einsatz kann aber auch zur Anregung von Diskussionen dienen oder im Kontext von Gruppenarbeiten stattfinden. Zur Unterstützung der Lehrkräfte bietet die Webseite eine Vielzahl an Unterrichtsmaterialen, welche für eigene Unterrichtskonzepte adaptiert werden können. Welche Vorteile ein effektiver Einsatz einer solchen digitalen Lernplattform hat, wird im Folgenden dargestellt.
Chancen der PhET Lernplattform
PhET-Simulationen bieten den Vorteil, dass Prozesse durch dynamische Darstellungen sichtbar gemacht werden können, die mit dem bloßen Auge nicht erkennbar sind. Ebenso können bieten diese Simulationen die Möglichkeit zeiteffizienter zu experimentieren und Hypothesen zu überprüfen, um den Lehrfokus auf Verstehensprozesse zu legen. Abstrakte Inhalte können so besser veranschaulicht und in Folge auch besser verstanden werden; beispielsweise die chemischen Prozesse im Rahmen des Treibhauseffekts.
Experimente, deren reale Umsetzung im Klassenzimmer zu aufwendig oder gefährlich ist, können stattdessen mithilfe von PhET simuliert werden. So können Inhalte, die normalerweise nur anhand von Lehrbüchern erarbeitet werden, ein Stück weit erfahrbar gemacht werden. Aber auch gegenüber Experimenten, deren reale Durchführung möglich ist, kann PhET Vorteile bieten: Schüler*innen, die eine PhET-Simulation zu Stromkreisen nutzten, zeigten einen größeren Zuwachs an konzeptuellem Wissen als Schüler*innen, die an einem realen Stromkreis arbeiteten. Ebenso kann forschendes Lernen im Vergleich zu direkter Instruktion zu einem größeren Wissenszuwachs führen.
Wenn PhET forschendes Lernen ins Klassenzimmer bringt, kann dadurch auch die Motivation für naturwissenschaftliche Themen und naturwissenschaftliches Lernen zunehmen, konkret in Bezug auf Selbstwirksamkeit, Leistungsziele und Wertorientierung. Auch das Interesse an naturwissenschaftlichen Themen wird dadurch gefördert, insbesondere in Bezug auf Einstellungen, Lernatmosphäre, Lernschwierigkeiten und Leistungsbereitschaft. Für Lehrkräfte bietet die Webseite von PhET den Vorteil, dass zu jeder Simulation Materialien bereitgestellt werden, die bei der Umsetzung im Unterricht helfen. Dazu zählen etwa exemplarische Lernziele sowie Dokumente von anderen Lehrenden, die ihre konkrete Implementierung im Unterricht darlegen und so für den eigenen Unterricht inspirieren können.
Herausforderungen der PhET Lernplattform
Die Chancen, die der Einsatz von PhET bietet, liegen somit auf der Hand. Dennoch führen die Simulationen den Lernerfolg nicht automatisch herbei. Aus pädagogisch-psychologischer Perspektive ergeben sich einige Herausforderungen, die kritisch betrachtet werden sollten. Laut der Cognitive-Load-Theory ist die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses stark begrenzt. Verarbeitungsprozesse, die beim Lernen entstehen, können dabei unterteilt werden in intrinsische, extrinsische (also für den Lernprozess hinderliche Faktoren) und lernbezogene Belastung. Unter intrinsischer Belastung versteht man diejenigen Prozesse, die zur Aufarbeitung der Komplexität des Lernstoffs in Gang gebracht werden. Diese Belastungsart kann wiederum als Produkt aus Elementinteraktivität des Stoffes und Vorwissen aufgefasst werden. In PhET-Simulationen, die über eine Vielzahl an Parametern und Schaltflächen verfügen, kann die Elementinteraktivität als hoch eingestuft werden. Lernende, die nur über gering ausgeprägtes Vorwissen verfügen, könnten dementsprechend überfordert werden. Die gewünschten lernbezogenen Prozesse kämen dann zu kurz und Lerneffekte könnten sich nicht einstellen. Lehrende sollten also dem Vorwissen sowie der Elementinteraktivität Rechnung tragen und beispielsweise eine einführende Lerneinheit vorschalten, bevor sie PhET im Unterricht einsetzen, um mögliche Überforderungen der Lernenden zu verringern.
Darüber hinaus ist kritisch zu überprüfen, ob alle interaktiven Simulationen wissenschaftliche Sachverhalte korrekt abbilden. Die Abbildung oben zeigt beispielhaft eine PhET-Simulation zur Visualisierung des Treibhauseffekts: Die Treibhausgase werden, analog zu einem Gewächs- bzw. Treibhaus, als Glasschichten dargestellt. Die Anzahl dieser Glasschichten kann von den Lernenden eingestellt werden und beeinflusst den Treibhauseffekt und die Temperatur auf der Erde. Dabei handelt es sich jedoch um eine vereinfachte Konzeptualisierung: In der Atmosphäre sind die Treibhausgase verteilt und schließen sich nicht zu abgeschlossenen Schichten zusammen. Damit kann diese Simulation Fehlkonzepte unterstützen (z.B. Ozonloch als Ursache für Klimaerwärmung durch „Loch in der abgeschlossen Atmosphäre“), welches bei Lernenden oftmals vorzufinden ist. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass Lehrkräfte die Simulationen, die sie einsetzen, dementsprechend sorgfältig auswählen und auf mögliche Grenzen in der unterrichtlichen Praxis hinweisen sollten, um der Ausbildung von Fehlkonzepten entgegenzuwirken.
Dieser Beitrag ist im Rahmen des Seminars “Digitale Medien und Pädagogische Psychologie” im Wintersemester 2021/2022 enstanden.
Zum Weiterlesen:
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