Woher kommt unser Strom? Wie lassen sich Daten von einem Ort an einen anderen übertragen? Welche Rolle spielt Mutation dabei, dass bestimmte Individuen bessere Überlebenschancen haben als andere? Das Verständnis von naturwissenschaftlichen Zusammenhängen ist ein grundlegender Baustein in Bildungsprozessen. Entscheidend ist dabei jedoch vor allem die richtige Herangehensweise: Häufig werden Sachverhalte noch immer mehrheitlich auswendig gelernt anstatt tatsächlich verstanden und angewendet. Das Forschende Lernen will das ändern – sowohl im Unterricht, als auch virtuell im Netz.
Wie funktioniert forschendes Lernen?
Das forschende Lernen (auch „Inquiry-based Learning“ genannt) beschreibt Lehr-Lernprozesse, die der wissenschaftlichen Forschung ähneln. In der empirischen Forschung wird versucht, durch eine systematische Suche Antworten auf bestimmte Fragen und Phänomene zu finden. Das forschende Lernen macht Kinder selbst zu Entdeckerinnen und Entdeckern, die ausgehend von eigenen Fragen und Beobachtungen lernen, die Welt zu verstehen. Durch das eigene Ausprobieren gelangen Kinder zu Erkenntnissen, die nicht einfach nur auswendig gelernt werden. Dieses Erkennen und Verstehen von kausalen Zusammenhängen hilft Schülerinnen und Schülern dabei, neues Wissen aufzubauen, indem sie beispielsweise lernen, wie bestimmte Variablen in Beziehung zueinander stehen. Aktive Mitarbeit und die Selbstverantwortung der Lernenden stehen dabei im Vordergrund. Forschendes Lernen ermöglicht Kindern und Jugendlichen, eigene Fragen zu entwickeln, auf die mit unterschiedlichen Methoden nach Antworten gesucht wird und dass die gefundenen Lösungen reflektiert werden.
Inquiry Circle
Der Lernprozess des Inquiry-based Learning lässt sich in einem Forschungskreis – dem sogenannten Inquiry-Circle – darstellen.
Die vier Phasen Orientierung (Themenüberblick und Wecken von Interesse), Konzeptualisierung (Fragen formulieren und Hypothesen aufstellen) Erforschung (Experiment durchführen und Beobachtungen beschreiben) und Schlussfolgerung (Ergebnisse erörtern) bauen aufeinander auf und sollten in chronologischer Reihenfolge erfolgen. Die Phase der Diskussion, in der Prozesse reflektiert werden, sollte kontinuierlich begleitend stattfinden. Wichtig hierbei ist, das forschende Lernen tatsächlich als Kreislauf wahrzunehmen. Der Lernprozess ist nicht zwingend mit der Schlussfolgerung beendet, vielmehr können sich aus den gewonnenen Erkenntnissen neue Fragestellungen ergeben, die zur Formulierung von neuen Ideen und Vermutungen führen, die wiederum anschließend in einem weiteren Experiment erforscht werden können.
Forschendes Lernen im Netz
Auch virtuell können Schülerinnen und Schüler sich an die Verbindung zwischen realen Phänomenen und dahinterliegender Wissenschaft annähern: Die Plattform PhET (Physics Education Technology) der Universität Colorado Boulder bietet eine Vielzahl an computergestützten Simulationen, die den Einsatz des Forschenden Lernens begünstigen und die Nutzung digitaler Medien im Unterricht fördern können. Gegründet wurde das Projekt PhET 2002 von Carl Wieman, der ein Jahr zuvor mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet wurde. Mittlerweile stehen auf der Plattform mehr als 150 interaktive Simulationen zur Verfügung, mit denen naturwissenschaftliche Phänomene aus den Fächern Physik, Chemie, Mathematik, Geowissenschaft und Biologie interaktiv virtuell erforscht werden können – in 95 Sprachen und kostenlos.
Wie sich die interaktiven Simulationen den Inquiry-Circle zunutze machen, um bei Kindern das Interesse an Naturwissenschaften zu wecken sowie das Verständnis dafür zu fördern, soll im Folgenden an einer Simulation aus dem Bereich Biologie erklärt werden.
Beispiel: Wie funktioniert natürliche Selektion?
Die natürliche Selektion ist ein zentraler Begriff der Evolutionstheorie von Charles Darwin und beschreibt evolutive Veränderungen durch zufällige, ungerichtete Mutation und gerichtete Selektion. In der Simulation der PhET-Plattform können Lernende die natürliche Selektion durch die Umwelt und Mutationen bei Hasen entdecken.
Phase 1 des Forschungskreises: Interesse wecken
In der Phase der Orientierung sollen Lernende einen groben Überblick über ein Thema gewinnen, und es soll ihre Neugierde geweckt werden. In den PhET-Simulationen wird dies durch die einfache Bedienbarkeit und die Möglichkeit zur interaktiven Auseinandersetzung begünstigt. Das Design ist ansprechend gestaltet und bietet verschiedene Optionen, um Variablen spielerisch zu verändern. So können zum Beispiel die Jahreszeiten verändert oder weitere Tiere ergänzt werden, um die Ausbreitung der Hasenpopulation zu beeinflussen (vgl. Abb. 2).
Phase 2 des Forschungskreises: Fragen formulieren und Hypothesen aufstellen
In dieser Phase liegt der Fokus auf dem Verständnis für ein Thema. Es geht darum, Verbindungen zu bereits bekannten Inhalten und Fragen aus der Lebenswirklichkeit der Kinder herzustellen, um das neue Thema in einen größeren Zusammenhang einordnen zu können. Dabei lassen sich zwei Prozesse unterscheiden: das Fragenstellen und das Aufstellen von Hypothesen. Beim Prozess des Fragenstellens geht es darum, offene Fragen zu sammeln, während es sich im zweiten Prozess um konkrete Hypothesen handelt. Beide Prozesse schließen sich allerdings nicht gegenseitig aus, da aus offenen Fragen durchaus auch konkrete Hypothesen entstehen können. Im virtuellen Setting der Simulation wird auch diese Phase durch das intuitive und ansprechende Design der Plattform gefördert. Variablen, die sich in der Simulation verändern lassen, regen die Lernende dadurch intuitiv an, sich mit den Auswirkungen entsprechender Einstellungen zu beschäftigen. So können sich für die Simulation zur natürlichen Selektion zum Beispiel Fragen danach ergeben, zu welchem Zeitpunkt weitere Tiere wie Wölfe die Hasenpopulation nicht mehr eindämmen können oder welche Auswirkungen bestimmte Mutationen oder Umwelteinflüsse auf die Population der Hasen haben.
Phase 3 des Forschungskreises: Erforschen
In der dritten Phase des Forschenden Lernens steht das Erforschen des Themas im Vordergrund. Nachdem zuvor erste, offene Fragen formuliert wurden, lassen sich in dieser Phase die Zusammenhänge aktiv und systematisch erforschen. Darüber hinaus können die zuvor aufgestellten Hypothesen durch eine Veränderung der Variablen überprüft werden. Im Anschluss an beide Teilprozesse können die gewonnen Erkenntnisse eingeordnet und in einen größeren Zusammenhang gebracht werden. PhET-Simulationen begünstigen diese Phase insbesondere durch vielfältige, visuell ansprechende und dynamische Grafiken, spielähnliche Umgebungen sowie das Verändern von Variablen. In unserem Beispiel können die Hasen auf diese Weise „aktiv“ verschiedenen Mutationen, aber auch Umweltfaktoren, wie den Jahreszeiten oder die Beschaffenheit der Nahrung ausgesetzt werden. Eine mögliche Erkenntnis, die sich nach Betrachtung der Simulation ableiten lässt, könnte daher lauten: Hasen mit langen Zähnen haben eine höhere Überlebenschance, wenn nur hartes Futter verfügbar ist.
Phase 4 des Forschungskreises: Ergebnisse erörtern
In der formal letzten Phase des Forschungskreises gilt es, die aufgestellten Forschungsfragen und Hypothesen mit Hilfe der Erkenntnisse aus der Erforschungsphase zu beantworten, um eigenständige Schlussfolgerungen ziehen zu können und gegebenenfalls neue Fragestellungen zu entwickeln. Diese Phase sollte im Rahmen der PhET-Simulationen eher als ein innerer Prozess betrachtet werden, den die Simulation zwar nicht begleitet, aber durchaus initiieren kann. Für das Beispiel der Hasenpopulation könnte beispielsweise als Ergebnis festgehalten werden, dass sich Mutationen im Allgemeinen auf die Überlebenschancen von Hasen auswirken – insbesondere die Mutation „lange Zähne“. Daran anschließend könnte sich die neue Fragestellung anschließen: Warum haben Hasen mit längeren Zähnen bei hartem Futter eine höhere Überlebenschance?
Begleitende Phase des Forschungskreises: Diskussion
Wie bereits zuvor angedeutet, handelt es sich bei der Diskussionsphase nicht um eine eigenständige Phase, sondern um einen kontinuierlichen Prozess. Auch dieser lässt sich wiederum in zwei Teilkomponenten darstellen: der Kommunikation und der Reflexion. Die Kommunikation meint einen externen Austausch mit anderen, beispielsweise über Ergebnisse und deren Schlussfolgerungen. Bei der Reflexion geht es darum, dass Lernende den Lernprozess individuell reflektieren können. Dabei lassen sie Revue passieren, was sie lernen konnten, aber auch, was sie zukünftig noch verbessern möchten, um ihren Lernerfolg zu optimieren. Zwar bietet die PhET-Plattform selbst keine Möglichkeit in einen unmittelbaren Austausch mit anderen zu treten, doch regen die interaktiven Simulationen durchaus zur Kommunikation an. In schulischen Settings kann dies zusätzlich im Rahmen von Gruppenarbeiten und/oder einer anschließenden Diskussion im Plenum gefördert werden.
Gelingt das Forschende Lernen virtuell?
Die interaktiven PhET-Simulationen sind eine Möglichkeit, das Forschende Lernen auch virtuell zu vermitteln. Besonders für die Phasen der Fragen- und Hypothesenformulierung in den Naturwissenschaften sowie Erforschung eines Themas eignen sich die dynamische Grafiken und die spielähnliche Umgebung, die das Verändern von Variablen erlaubt, Lernende an die Zusammenhänge zwischen realen Phänomenen und dahinterliegender Wissenschaft heranzuführen. In den Unterricht lässt sich zum Beispiel eine PhET-Simulation zum Thema Gravitation integrieren. Dabei kann bei der Einbindung in den Unterricht der Grad an vorgegebener Struktur für die jeweiligen Unterrichtsziele angepasst werden. Die Integration von Simulationen in den Unterricht kann dabei sogar die Testergebnisse von Schülerinnen und Schülern verbessern. So antworteten Schülerinnen und Schülern in einer Studie von Varma und Linn (2012) zufolge präziser und beschrieben die naturwissenschaftlichen Zusammenhänge besser. Durch die einfache und intuitive Bedienbarkeit der Simulationen sowie das ansprechende Design können Lernende selbst zu Forscherinnen und Forschern werden und naturwissenschaftliche Zusammenhänge aktiv und selbstgesteuert entdecken. Dadurch lernen sie Wissen nicht einfach nur auswendig, sondern können ihr eigenes Verständnis hinterfragen und gegebenenfalls auch korrigieren oder erweitern.
Der Beitrag ist im Rahmen des Seminars „Digitale Medien und Pädagogische Psychologie“ im Wintersemester 2020/2021 entstanden.
Zum Weiterlesen:
- Fischer, C. & Dershimer, R. C. (2016). Preparing teachers to use educational games, virtual experiments, and interactive science simulations to engage students in the practices of science. In L.-J. Thoms & R. Girwidz (Eds.), Proceedings of the 20th International Conference on Multimedia in Physics Teaching and Learning (pp. 263-270). Mulhouse, France: European Physical Society.
- Moore, E. B., Chamberlain, J. M., Parson, R., & Perkins, K. K. (2014). PhET interactive simulations: Transformative tools for teaching chemistry. Journal of Chemical Education, 91(8), 1191–1197. https://doi.org/10.1021/ed4005084
- Pedaste, M., Mäeots, M., Siiman, L.A., de Jong, T., van Riesen, S.A.N., Kamp, E.T., Manoli, C.C., Zacharia, Z.C., Tsourlidaki, E. (2015). Phases of inquiry-based learning: Definitions and the inquiry cycle. Educational Research Review. 47–61. https://doi.org/10.1016/j.edurev.2015.02.003
- Varma, K., & Linn, M. C. (2012). Using interactive technology to support students’ understanding of the greenhouse effect and global warming. Journal of Science Education and Technology, 21(4), 453–464. https://doi.org/10.1007/s10956-011-9337-9
- Wieman, C. E., Adams, W. K., & Perkins, K. K. (2008). PhET: Simulations that enhance learning. Science, 322(5902), 682–683.